„Plötzlich Flüchtling“ : Studenten leben einen Tag in der Erstaufnahme
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Kahler Schlafplatz: Studenten mimen in einem Planspiel des Landkreises Kassel Flüchtlinge. Bild: dpa
Studenten ziehen für einen Tag in ein Flüchtlingsheim. Sie sollen selbst spüren, was Asylsuchende bei ihrer Ankunft in Deutschland erleben. Doch darf man so etwas nachspielen?
Im Flur der Flüchtlingserstaufnahme ist es laut, eng und chaotisch. „Den Fluchtweg frei halten“, bellt eine Mitarbeiterin der Einrichtung. Für Menschen, die eine Flucht um den halben Globus hinter sich haben, mag das zynisch klingen - sofern sie es verstehen. Denn es herrscht ein babylonisches Sprachdurcheinander.
Ali aus dem Irak will eigentlich nach Schweden. Dort soll seine Familie sein. Er spricht mehrere Sprachen, muss immer wieder dolmetschen. „If you lose your papers, you will get a problem“, erklärt er einem jungen Mann, der etwas verwirrt auf die „Bescheinigung für die Weiterleitung eines Asylsuchenden“ blickt. Dieses Papier hat sie alle hierher geführt: in ein nordhessisches Industriegebiet in Fuldabrück (Kreis Kassel).
Landsleute suchen, die es können
Ali heißt eigentlich Steffen Schmidt. Der 22 Jahre alte Mann ist Student an der CVJM-Hochschule in Kassel - wie die meisten hier. Sie studieren an der staatlich anerkannten Hochschule des Christlichen Vereins Junger Menschen Soziale Arbeit und Gemeindepädagogik. Doch für knapp einen Tag sind sie Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien, Afrika oder der Türkei, jeder mit eigener, zugeloster Biografie. Wer laut Anweisung kein Deutsch oder Englisch spricht, muss sich Landsleute suchen, die es können - wie Ali.
Das Planspiel, das am Donnerstag und Freitag stattfand, ist ein Gemeinschaftsprojekt der Hochschule und des Landkreises Kassel. Es gehe nicht darum, mit dem Schicksal eines Flüchtlings zu spielen, sondern das Thema Asyl und Migration greifbar zu machen, sagt Bijan Otmischi von der Flüchtlingshilfe des Landkreises. Die Studenten sollten Erfahrungen sammeln, Bedürfnisse erkennen und daraus später Hilfsangebote für Flüchtlinge entwickeln.
Alles an einem Ort
Was die Studenten spielerisch erleben, ist in abgeschwächter Form noch immer Alltag in Hessen. Laut dem Regierungspräsidium Gießen kommen zwischen 50 bis 80 Menschen pro Tag neu in hessische Erstaufnahmen. 10.000 waren es im vergangenen Jahr insgesamt.
Die Erfahrung der Studenten soll nah an der Realität sein, der Weg dahin ist laut Otmischi dramaturgisch verkürzt: Eine Gesundheitsuntersuchung gebe es beispielsweise im Ankunftszentrum Gießen, eine Anhörung zu Fluchtgründen führe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Heute findet das alles an einem Ort statt.
Das Gefühl der Hilflosigkeit vermittelt die Übung perfekt: Im Wirrwarr der Türen verliert man nach wenigen Minuten die Orientierung, Formulare mit Fantasieworten wie „Örigkeitgeangstaast“ lassen die Studenten rätseln, was man von ihnen wissen will: Staatsangehörigkeit. Plötzlich wird Russisch gesprochen. Einige Studenten irren stundenlang durchs Gebäude.
„Das kann man nicht simulieren“
„Das Chaotische ist gewollt“, sagt Lilli Wiebe, Dozentin für Migration, Integration und Interkulturalität an der Hochschule. Sie sei selbst als Ehrenamtliche in einer Erstaufnahme gewesen und habe das erlebt. Wer den Weg durch die Institutionen hinter sich hat, landet im Schlafraum. Besonders gemütlich ist der nicht: Die nie genutzte Gemeinschaftsunterkunft wurde für 400 Flüchtlinge eingerichtet. Alle 70 Studenten müssen hier schlafen, wie in einer Erstaufnahme werde das Licht nie komplett gelöscht.
Die Organisatoren des Planspiels betonen, dass sie respektvoll mit dem Thema umgehen. Timmo Scherenberg, Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrates, hält solche Planspiele nicht für verkehrt. Andere Methoden seien aber besser geeignet, um zu erfahren, was Flüchtlinge bewegt. Zentral sei die Angst, nicht bleiben zu dürfen. „Das kann man nicht simulieren“. Andere studentische Projekte in Hessen setzten auf Praktika, ehrenamtliche Arbeit in der Flüchtlingsberatung und in Heimen. „Damit kann man sehr viel mehr über die Lebensverhältnisse lernen“, erklärt Scherenberg.
Ali alias Steffen zieht am nächsten Morgen Bilanz: Eindruck hat bei ihm die Anhörung hinterlassen. Weil er laut fiktiver Biografie im Irak für die Polizei gearbeitet hatte, wurde ihm unterstellt, Menschen gefoltert zu haben. „Das war sehr unangenehmen, wenn einem solche Dinge in die Schuhe geschoben werden.“ Er könne nun es besser nachvollziehen, wie sich Flüchtlinge fühlen. Für den 22 Jahre alten Mann war die Nacht früh beendet: 4.30 Uhr musste er aufstehen - um nach Schweden aufzubrechen und seine Familie zu suchen.