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Staatszirkus der DDR : Der abgewickelte Traum

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Die Erinnerung an die Zeit in den Manegen der Welt lässt sie nicht los, erst recht nicht, wenn sie die Treppe hochgehen: Peter und Katja Stanik in ihrem neuen Zuhause in der Rhön. Bild: Fricke, Helmut

Peter Stanik war Dompteur im Staatszirkus der DDR. Er und Frau Katja gastierten in Manegen der ganzen Welt - bis die Wende kam. Heute hüten sie Schmusekatzen.

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          Sie ist kaum zu sehen, diese eine Narbe, die Peter Stanik unter seinem lichten grauen Haar trägt. Die helle Linie auf der Schädeldecke, die daran erinnert, wie ein Leopard sich während einer Vorstellung in seinen Kopf krallte. Stanik trug ihn auf den Schultern durch die Manege, als sich zwei Tiger zu streiten begannen. Lautes Brüllen, der Leopard erschrak und klammerte sich an ihm fest. Mit blutendem Kopf und durchtränkter Weste peitschte sich Stanik durch die Raubtier-show, bevor er ins Krankenhaus fuhr. Sie nähten ihn mit 13 Stichen.

          „Ein Dompteur zeichnet sich durch die Narben aus, die er nicht hat“, sagt der Dreiundsechzigjährige und schimpft über Bändiger, die mit vielen Narben prahlen. Aber nicht alle Verletzungen hinterlassen Spuren, die für jedermann sichtbar sind. Häufig sind es andere Einschnitte, die einen fürs Leben prägen. Bei Peter Stanik und seiner Frau Katja war es das Sterben des Staatszirkus der Deutschen Demokratischen Republik. „Ich war dreißig Jahre beim Zirkus“, sagt Stanik. Er hält inne, blickt auf den Boden, wiederholt den Satz, als würde er von neuem begreifen, was er verloren hat. Jetzt, mehr als zehn Jahre nachdem die Treuhand alles abgewickelt hat.

          Den Eisbär küssen

          Seine Zirkuswelt hat er gegen vier Zimmer mit Kratzwänden, Katzenklos und Kletterbäumen eingetauscht. Vor fünf Jahren eröffneten die Staniks eine Katzenpension, und seitdem frühstücken sie wie früher erst, nachdem sie die Tiere gefüttert haben. Die Idee für die Pension kam ihnen schon auf den Tourneen. Oft hatten sie sich ausgemalt, was sie im Alter tun würden. Eine Pension für Vierbeiner war der Plan. Kura haben sie die Herberge für Urlaubskatzen genannt, nach Katjas erster eigenen Hauskatze, die sie geschenkt bekam, als sie in der japanischen Stadt Kukura gastierten. Und damit ist sogar die Pension ein Stück ihrer Zirkusgeschichte.

          Während ihrer Zeit in der Manege probierten sie reichlich Kunststücke aus: Katja konnte einen Eisbär küssen, Peter einen Tiger mit einem aufgespießten Stück Fleisch im Mund füttern sowie Braun- und Kragenbären tanzen lassen. In ihren Vorstellungen kletterte ein Panther zwei parallel gespannte Seile hoch, Liger - Kinder von Löwen und Tigern - trugen die Limbo-Stange, unter der sich Katja bog, nur wenige Zentimeter über dem Boden.

          Sie zog nicht um die Welt, sondern blieb

          Es war der 31. Dezember 1999, als der Staatszirkus, der schon längst nicht mehr so hieß, für immer verschwand. Ein Jahrzehnt lang hatte er versucht, seinen Platz in diesem neuen Land zu finden. Und Peter Stanik stand am Ende ausschließlich vor Schülern und Kindergartenkindern im Zelt. Mit den Tieren, die ihm noch geblieben waren, führte er Kunststücke vor und erklärte, wie er dressiert.

          Es war eine Vorführung, mit der er nicht wie sonst um die Welt zog, sondern blieb: in Berlin-Hoppegarten, im früheren Winterquartier des Zirkus, diesem fünf Hektar großen Gelände, auf dem die Probemanegen thronten, es Werkstätten gab und kleine weiße Wohnwagen mit den Aufschriften: „Berolina“, „Aeros“ und „Busch“. Das waren die drei Zirkusse des Volkseigenen Betriebs, VEB Zentral-Zirkus, der 1980 den Namen Staatszirkus der DDR erhielt. „Die Treuhand hatte kein Interesse, diese Gemeinschaft am Leben zu lassen“, sagt Stanik.

          Sie brauchten bald nur noch einen Wohnwagen

          Peter und Katja mussten ein neues Leben beginnen und fanden es in Nordhessen. „Wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich einmal in den alten Bundesländern leben würde, ich hätte es nicht geglaubt“, sagt er, lacht und blickt über das Grundstück, das direkt an einer weiten Wiese liegt, mitten in der Rhön, in Simmershausen, in einer kleinen Stadt, von der er noch nie etwas gehört hatte, bevor sie herzogen.

          Stanik wuchs im Osten Berlins auf, Katja im thüringischen Sömmerda. Zum ersten Mal begegneten sie sich, da war sie noch ein Kind und er schon ein Mann. Katja besuchte ihre Eltern während der Schulferien im Zirkus, Peter war dort als Tierpfleger beschäftigt und erlernte von einem älteren Raubtierdompteur die Kunst der Dressur. Als er Jahre später, 1979, seine erste eigene gemischte Raubtiergruppe übernahm und eine Assistentin suchte, war Katja die Richtige. Und schon vor der ersten Tournee war klar, dass sie nur einen Wohnwagen für die Reise brauchen würden. 1981 heirateten sie. Er klassisch in Schwarz, sie in Rot mit weißem Hut.

          Ein Fell und viele Bücher als Erinnerung

          Als die Mauer fiel, wussten beide: Ihre Raubtiere würden sie ohne Subventionen vom Staat nicht halten können. Es gab schließlich keinen anderen Weg, als sich von einigen Bären und Katzen zu trennen, von den Tieren, die sie aufgezogen hatten. Katja war über Monate wie gelähmt, unfähig, Peter im Winterquartier nur zu besuchen. „Ich habe Jahre gebraucht, um wieder ins Leben zu kommen“, sagt sie heute. Sie konnte nicht weiter für den Zirkus arbeiten. Einer musste beginnen, fern von der Manege ein Leben aufzubauen. Schon damals war abzusehen, dass es diesen Zirkus nicht ewig geben würde.

          In ihrem Haus haben sie einen Teil der Vergangenheit bewahrt: das Fell des verstorbenen Eisbären Nordpol, Regale voll Bücher über Tierpsychologie und wilde Katzen, Fotos aus Zeiten, als sie gemeinsam mit ihrer gemischten Raubtiertruppe um den Globus tourten. Sie fuhren durch die DDR, die Bundesrepublik, Japan und Ungarn, gastierten bei bekannten Zirkussen wie Krone in München und Knie in der Schweiz. Wurden zum internationalen Festival in Monte Carlo eingeladen und erhielten dort einen der Clown-Spezialpreise für ihre einmalige Show.

          Die Mitarbeiter litten unter der Auflösung

          Schon als Kinder hatten beide gehofft, einmal im Zirkuszelt zu stehen. Katja, weil sie ihren Eltern nacheiferte, die als freie Artisten mit Pudeln oder Schlangen durch die Welt reisten. Peter, weil er von Tierdressuren fasziniert war. Er war es dann, der, als alles zu Ende ging, für die übrig gebliebenen Tiere ein neues Zuhause suchte. Er war es, der mit Kollegen die letzten Habseligkeiten des Winterquartiers in Container warf, so als müsste er seinen Traum selbst begraben. Jahre später kehrte er mit Katja zu diesem Ort zurück. Sie wollten wissen, was nun unter den großen Eichen steht, wer die denkmalgeschützte „Villa“ mietet. Doch nichts hatte überlebt. Ihr Traum wich einen Parkplatz mit Gartencenter im quietschendem Grün. „Das war, als hätten sie mir ein Stück aus meinem Körper geschnitten“, sagt Stanik.

          Viele ehemalige Mitarbeiter litten ebenfalls unter der Auflösung. Es gab Artisten, die sich an ihren Requisiten erhängten, Ehen, die daran zerbrachen, Beschäftigte, die nicht wussten, wie sie weiter machen sollten. Der Dompteur, von dem Peter ausgebildet wurde, erlitt einen körperlichen Zusammenbruch und starb ein Jahr nach der Wende im Alter von 59 Jahren.

          „Alles, was jetzt kommt, ist Zugabe“

          Warum Peter und Katja gemeinsam neu anfingen? Sie wissen es beide nicht. Vielleicht weil sie sich durch die Arbeit blind vertrauten und sicher waren, der andere würde sein Leben geben. Vielleicht weil sie nicht auf den blühenden Westen hofften. Katja verkaufte Kleidung und Ausrüstungen zum Wandern in fernen Regionen, Peter ließ sich zum Wachmann umschulen. Er fand in Berlin keinen Job, begann den Taxischein zu machen und bewarb sich dann doch deutschlandweit für das, was er eigentlich gelernt hatte: Tierpfleger. 2001 kam die Zusage, ein Tierheim in Fulda zu leiten. Der erste Schritt nach Hessen. Für mehrere Jahre kümmerte er sich dort um die Tiere, bis man ihn entließ. Nun waren sie in Hessen verwurzelt, hatten Freunde, und Katja hatte Arbeit in einem Kiosk gefunden. Also blieben sie. Mit ihnen ein Hund, eine Katze, ein Wellensittich, ein Kanarienvogel, eine Schildkröte und mehrere Hasen. Das ist ihre neue Familie.

          Katja Stanik hat noch immer wache, strahlende Augen, die elegante Haltung einer Artistin, als habe sie die Präsenz auf der Bühne für ihr Leben verinnerlicht. Sicherlich reiße die Wunde auf, wenn sie über den Verfall des Zirkus spreche. Aber alles habe eben seine Zeit, sagt sie. „Und unseren Traum, den haben wir gelebt. Alles, was jetzt kommt, ist Zugabe.“

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