125 Jahre Siemens in Frankfurt : Telegrafenlinie, Knochenmühle und Industrie 4.0
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Fährt ohne Pferd: Die im Volksmund „Knochenmühle“ genannte Tram zwischen Frankfurt und Offenbach war die erste elektrische Straßenbahn im Regelbetrieb. Bild: dpa
Vor 125 Jahren errichtete Siemens in Frankfurt seine Niederlassung. Doch auch schon zuvor machte der Konzern mit Innovationen am Main weltweit von sich reden. Für die Zukunft hofft er vor allem auf zwei Branchen.
Typen wie ihn können viele Chefs mittlerweile buchstäblich mit der Lupe suchen. Bernhard Schwalm arbeitet ein halbes Jahrhundert beim selben Unternehmen. „Fast 49 Jahre sind es“, sagt der Mann aus Frankfurt-Sossenheim. 1968 fing er mit der Lehre als Elektromechaniker an, da war er vierzehn Jahre alt: bei Siemens in Frankfurt. Seitdem hat der Konzern mit Hauptsitz in München alle paar Jahre sein Gesicht verändert, hat Tochterfirmen reihenweise an die Börse gebracht, Abteilungen ausgelagert und zum Teil wieder zu Siemens zurückgeholt. Schwalm dagegen blieb.

Wirtschaftsredakteur und Internetkoordinator in der Rhein-Main-Zeitung.
Damit ist er Teil der Siemens-Geschichte in Frankfurt voller Umbrüche und Innovationen: Seit nun genau 125 Jahren besteht die Niederlassung am Main, die größte im Siemens-Bezirk Mitte, der von Marburg über Mannheim bis hinunter nach Saarbrücken reicht.
Biografien und Stadtteile geprägt
Am vergangenen Wochenende hat die Niederlassung ein internes Fest für die Mitarbeiter gegeben, rund 1000 der 2200 Beschäftigten kamen mit Anhang in die regionale Zentrale an der Lyoner Straße in der Bürostadt Niederrad. Dorthin ist ein Großteil der Belegschaft im vergangenen Sommer umgezogen. Schwalm natürlich auch.
Drei Tage später gibt er den offiziell geladenen Gästen im Foyer Einblicke in die lokale Firmengeschichte. Er trägt, für ihn ganz ungewohnt, einen braunen Nadelstreifen-Zweireiher, dazu ein weißes Hemd und eine schräg gestreifte Krawatte in Gold- und Brauntönen. Gemeinhin geht er in Jeans zur Arbeit, denn bei den Kunden muss er als Servicemitarbeiter, der sich mit Gebäudeautomation befasst, oft an die Anlagen ran. Ein Anzug wäre da der falsche Dresscode. Doch an diesem Tag geht es ja um das Jubiläum – mit ihm als Firmenbotschafter, auf dessen lange Erwerbsbiographie der Arbeitgeber stolz ist, wie mehrfach zu hören ist.
An seinem Lebenslauf ist nachzuempfinden, wie Siemens ganze Biografien und Stadtteile geprägt hat: Nach der Lehre fing Schwalm in einer Außenstelle an der Gutleutstraße an. Dort nutzte Siemens bereits seit den zwanziger Jahren Bürogebäude, bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Bernhard Schwalm wartete von dort aus anfangs für die Mess- und Regeltechnik Heizungs- und Industrieanlagen, etwa jene der damals noch eigenständigen Henninger Bräu. Anfang der siebziger Jahre betreute er die Autotechnik mit. Siemens betrieb seinerzeit frühe Computerdiagnose-Geräte. „Da gab es auch in unserem Haus viele Entwicklungen“, erinnert sich Schwalm, der bedauert, dass dieses Geschäft nicht weiterverfolgt wurde.
Erste elektrische Tram
1980 zog sein Arbeitgeber von der Gutleutstraße nach Rödelheim um, und er wechselte zur Gebäudeautomation. Dort erlebte der Sossenheimer den ständigen Wandel der Technik. Er erinnert sich, sagt er, noch gut an Röhrenmonitore und die Zeit, in der Siemens-Mitarbeiter diverse Daten „vom Bildschirm abgriffen“. Längst nutzt auch er Flachbildschirme und druckt direkt aus dem Computer aus, so wie viele andere. „Ich bin nie auf dem alten Eisen sitzengeblieben.“
Siemens prägte Rhein-Main aber schon zu einer Zeit, als der ursprünglich Berliner Konzern noch gar keine Niederlassung am Main betrieb. So machte von Februar 1884 an das Unternehmen in Frankfurt mit der ersten elektrischen Tram im Regelbetrieb von sich reden – zuvor gab es nur eine Versuchsstrecke in Berlin und eine Überlandroute in Wien. Die Straßenbahn fuhr zwischen Frankfurt-Sachsenhausen, wo sie in Höhe der Alten Brücke hielt, und dem Offenbacher Mathildenplatz.
Längste Telegraphenlinie in Europa
Knapp sieben Kilometer lang war die Strecke – und offenbar nicht jedermann geheuer: Der Volksmund nannte die Tram bald „Knochenmühle“. Deren Nutzung war nicht billig, eine Fahrt kostete 20 Pfennig, an Sonn- und Feiertagen wurde ein Aufschlag fällig. Gleichwohl transportierte die Straßenbahn allein im ersten Jahr eine Million Fahrgäste.
Bereits 1879 hatte Siemens im Frankfurter Zoo eine elektrische Beleuchtung eingerichtet, im Jahr darauf illuminierte die Firma dann die Bühne der Oper per Strom, kurze Zeit später folgte der Hauptbahnhof. Und schon 1848 hatte Siemens & Halske, wie der Konzernvorläufer einst hieß, von Frankfurt nach Berlin die damals längste Telegraphenlinie in Europa eingerichtet.
Profitieren vom Aufschwung in der digitalen Infrastruktur
Geht es heute um Hochtechnologie von Siemens, dann fällt Michael Döcke zum Beispiel zeitgenössische Gebäudetechnik ein. Kosten für Heizung und Kühlung senken lautet ein Ziel. Je mehr Bürotürme Siemens entsprechend ausrüsten kann, desto besser ist es fürs Geschäft. Deshalb hofft der Sprecher der Niederlassung Frankfurt auf Vorteile für Frankfurt durch den Brexit, das Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union, durch den Hunderte neuer Büroarbeiter nach Frankfurt am Main kommen könnten. Aber schon jetzt ist die Niederlassung mit 3900 Lieferanten und einem Einkaufsvolumen von einer Milliarde Euro ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Rhein-Main.
Die Fechenheimer Siemens-Fabrik, in der gut 1500 Mitarbeiter tätig sind und die spezielle Schaltanlagen herstellt, profitiert nach den Worten von Döcke derweil vom Aufschwung in der digitalen Infrastruktur. Im Zentrum steht dabei der Internetknoten De-Cix. Die Rechenzentren mit Hochleistungsrechnern, die Daten durchleiten, verarbeiten und speichern, benötigen viel Strom und damit Schaltanlagen aus Fechenheim. Bedeutend sei für Siemens auch die zwischen Marburg und Ingelheim stark vertretene Pharmabranche. Siemens kümmere sich für sie um die Verfahrenstechnik.
Ständiger Wandel
Gefragt, welche Entwicklung er für den Konzern in der Region erwarte, zeigt Döcke mit der Hand nach schräg oben. Potential sieht er im Internet der Dinge: „Wir müssen der Welt zeigen, dass wir Industrie 4.0 können“, also die Vernetzung der Produktionsmaschinen, wodurch diese noch schneller, individueller und ohne zusätzliche Eingriffe produzieren sollen.
Bernhard Schwalm aus Sossenheim wird Siemens auf diesem Weg nur noch ein kleines Stück begleiten. Von August an ist er Rentner. Aus dem ständigen Wandel hat er den Schluss gezogen: „Wer sich dagegen sträubt, bleibt auf der Strecke.“