Shakespeares Kräuter : Taumel-Lolch für Lear, Bilsenkraut für Hamlets Vater
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Bibliophil: Stefan Schneckenburger mit seinem „Herball“ Bild: Marcus Kaufhold
Das Buch „The Herball“ fasst das Kräuterwissen der Shakespeare-Zeit zusammen. Der frühere Leiter des Botanischen Gartens der TU Darmstadt besitzt ein Exemplar – und nutzt es für ein eigenes Buchprojekt.
Schon die Aufschlagseite ist ein Kunstwerk. Sie zeigt einen Kräutergarten, üppig umrankt von Putten, Rosenblüten, Blumengirlanden und den Porträts von Edelleuten. „The Herball or Generall Historie of Plantes“ steht in der Mitte zu lesen. „Imprinted at London by John Norton 1597.“ Der reich verzierte Kupferstich sei eigens für das Buch angefertigt worden, erzählt Stefan Schneckenburger. „The Herball“ ist ein faustdicker, schwerer, in Leder gebundener Klassiker der Botanik und ein Sammlerstück. Ein gut 1500 Seiten starker Foliant mit mehr als 2000 Holzschnitten. „Pflanzenabbildungen – auch das war neu vor mehr als 500 Jahren“, sagt der langjährige Direktor des Botanischen Gartens der TU Darmstadt.
Verfasst hat das Kräuterbuch im 16. Jahrhundert John Gerard, im englischen Königreich damals ein bekannter Mann. Er war Leibchirurg von König Jakob VI. von Schottland, dem Nachfolger von Queen Elisabeth I. „Er war aber auch ein großer Pflanzenkenner und Gartenliebhaber“, sagt Schneckenburger. So gestaltete er etwa Theobalds Park, den Garten des Landsitzes von William Cecil, der viele Jahre Erster Minister unter Königin Elisabeth war.
„So etwas gab es vorher nicht“
Der Londoner Verleger John Norton beauftragte Gerard 1595 mit dem Kräuterbuch. Der Verfasser war weit gereist, kannte zahllose Pflanzenfundstellen, und vor allem wusste er als Mediziner um die Heilwirkung der Kräuter. „Er brachte seine eigene Erfahrung mit, hatte die Wirkung selbst getestet und wissenschaftlich untersucht“, sagt Schneckenburger. „So etwas gab es vorher nicht.“ Dieses Wissen dokumentiert unter anderem das beeindruckende Register des Buches, das die Apothekernamen der Pflanzen auflistet, ihre wissenschaftlichen, lateinischen Namen und auch ihre Indikation. Ergänzt wird „The Herball“ durch die mehr als 2000 sehr realistischen Pflanzenbilder, die von der Blüte bis zur Wurzel das gesamte Gewächs abbilden. „Dabei gibt es sogar eine Verbindung zu Frankfurt“, berichtet Schneckenburger. Denn die Holzschnitte hatte der Londoner Verleger damals auf der Buchmesse in Frankfurt bei Nikolaus Bassaeus gesehen und dort ausgeliehen. „Das geschöpfte Papier, die Ausleihe der Holzschnitte, der Druck – das Kräuterbuch war ein sehr teures Verlegerprojekt.“ Und ein sehr frühes Beispiel für die Globalisierung, findet Schneckenburger.
Zwischen 500 bis 800 Exemplare wurden 1597 gedruckt. Es verkaufte sich gut. 1633 gab es eine Neuauflage. Schneckenburger hat sich seinen eigenen „Herball“ vor zwei Jahren zur Pensionierung geleistet. Eine Liebhaberei. Er entdeckte ihn in einem Antiquariat in England. Gerards Buch, sagt er, war die Grundlage für das botanische Wissen im 16. Jahrhundert. Das war auch die Schaffens- und Blütezeit William Shakespeares, für dessen Werk sich Schneckenburger ebenfalls begeistert. Derzeit schreibt er an einem Buch mit dem Titel „Gartentheater – Shakespeares grüne Welten“, das als gedruckte Version und als Open Access zum Downloaden erscheinen soll. Ein Modellvorhaben, das er in Kooperation mit der Universitäts- und Landesbibliothek und der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt verwirklicht.
Shakespeare brachte Pflanzen auf die Bühne
Gerard und Shakespeare kannten einander, davon ist Schneckenburger überzeugt. Sie wohnten nicht weit voneinander entfernt, „sind sich in London sicherlich über den Weg gelaufen“. König Jakob, dem Gerard medizinisch beistand, war ein Theaterfreund, Shakespeares Truppe ernannte er zu den King’s Men. Der Poet hat Gerards Kräuterwissen auf die Bühne gebracht. Pflanzen spielen in seinen Stücken eine tragende Rolle. So wird Hamlets Vater mit Schwarzem Bilsenkraut oder Hebenon-Kraut vergiftet, und der verwirrte König Lear trägt eine Unkrautkrone aus Distel, Schierling und Taumel-Lolch. „Taumel-Lolch verursacht Halluzinationen“, sagt Schneckenburger. Shakespeare und auch seine Zuschauer damals waren mit Blumen, Kräutern und Pflanzen, ihrer Bedeutung und Wirkung vertraut. „Sie gehörten zum Alltag, und die Menschen hatten einen ganz anderen Zugang dazu als heute.“
Shakespeares Theater war kulissenlos, die Kostüme waren teuer. Der Poet erschuf mit Worten seine Kulissen. „Die Pflanzen erzeugten Bilder im Kopf der Besucher – Jahreszeiten, Atmosphäre, Szenerien.“ Und Shakespeare bediente sich ihrer auch für seine teils sehr zotige Sprache. In „Romeo und Julia“ etwa dominiert keineswegs nur Liebeslyrik, zuweilen geht es heftig zu. „Wenn von der Birne von Poppering die Rede ist, dann hat das eindeutig eine sexuelle Konnotation“, sagt Schneckenburger.
Der Klassiker liest sich mit diesem Wissen ganz anders. Sämtliche Werke Shakespeares – auf Deutsch und Englisch – hat Schneckenburger aus botanischer Sicht für sein Buch unter die Lupe genommen. „Ich kenne alles darin, was mit Pflanzen zu tun hat“, sagt er. Sechs Jahre recherchiert und schreibt er schon daran, hat 2016 bereits eine Ausstellung zu Shakespeare kuratiert, die in 25 botanischen Gärten in Deutschland und Österreich zu sehen war. Einen Hang zur Literatur hatte er aber schon vorher. Den „Hamlet“ kann Stefan Schneckenburger auswendig. „Mein Großvater war Deutschlehrer“, sagt er und lacht. Im Sommer soll sein Buch erscheinen. Eine ähnliche Veröffentlichung gibt es nach seinen Worten im deutschsprachigen Raum bisher nicht. „Es ist ein Buch für Pflanzenfreunde, die an Literatur interessiert sind. Und ein Buch für Literaturfans, die Pflanzen lieben.“