Tourismus im Rheingau : Wo ist die adaptisch-pragmatische Mitte für Rüdesheim?
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Luftnummer: Die Gondelbahn hoch zum Niederwalddenkmal ist eine der Rüdesheimer Attraktionen. Bild: Marcus Kaufhold
Mit einer neuen Tourismus-Strategie sucht Rüdesheim den Weg aus der Krise, denn die Stadt litt stark unter der Corona-Pandemie. Der besonders erwünschte Gast ist definiert worden.
Rüdesheim ist von zwei Jahren Pandemie schwer gebeutelt worden. Die Corona-Krise hat touristische Versäumnisse der Vergangenheit offengelegt. Auch wenn sich der Veranstaltungskalender für 2022 inzwischen wieder mit Großereignissen wie Rhein in Flammen, Magic Bike Rallye, Weinfest und Oldtimertreffen gefüllt hat, so steht Rüdesheim unverändert vor einem schwierigen Jahr.
Denn Gruppenreisen sind trotz abklingender Pandemie noch nicht jedermanns Sache, und eine Krise in Europa wie der russische Angriff auf die Ukraine schreckt erfahrungsgemäß Besucher aus Asien und Amerika ab. Die Pandemie hat überdies das Reiseverhalten der Deutschen verändert, die mehr Wert auf Erlebnisse in der Natur legen. Hinzu kommt, dass die privatrechtlich organisierte Rüdesheim Tourist AG (Rüd AG), die für Werbung, Marketing und Organisation zuständig ist, nach dem Abgang des bisherigen Geschäftsführers nur dank einer ehrenamtlichen Interimsführung handlungsfähig ist. Ein Schwebezustand, der vermutlich bis in den Herbst hinein dauern wird.
In dieser schwierigen Lage gibt sich die Stadt eine neue Marketingstrategie, die der Tourismusberater Cornelius Obier bei der Jahresversammlung des Vereins für Wirtschafts- und Tourismusförderung (WTF) vorgestellt hat. Der WTF ist der maßgebliche Auftraggeber der Rüd AG, denn der Verein reicht den kommunalen jährlichen Zuschuss von bislang 360.000 Euro zum größten Teil an die Rüd AG als touristischen Dienstleister weiter.
Mängel in der Infrastruktur und ein sehr heterogenes Angebot
Welche Zielgruppe aber soll die Rüd AG damit in erster Linie umgarnen? Dass ein Strategiewechsel dringend nötig ist, belegte Obier mit Zahlen: Zwischen 2009 und dem Vor-Pandemie-Jahr 2019 stagnierten die Übernachtungs- und Besucherzahlen in Rüdesheim nahezu, während der Tourismus in Hessen insgesamt um gut 30 Prozent zulegte. Im vergangenen Jahr wurden in Rüdesheim nur 215.000 Übernachtungen gezählt – weniger als zwei Drittel des gewohnten Niveaus.
Zu den Schwächen von Rüdesheim gehören nach der Analyse von Obier Mängel in der Infrastruktur, ein sehr heterogenes Angebot, ein stellenweise zu niedriges Preis- und Qualitätsniveau und ein fragwürdiges Image. Das „Markenprofil“ sei schwammig, eine klare Marketingstrategie fehle. Der Kurs, möglichst alle potentiellen Besucher irgendwie ansprechen zu wollen, könne nicht länger fortgesetzt werden. Gleichwohl habe Rüdesheim durch seine Lage am Rhein und am Rand der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main außergewöhnliche Möglichkeiten. Zwischen Mittelrheintal und Rheingau sitze Rüdesheim „wie die Spinne im Netz“.
Obier hat auf der Basis einer Stärken-Schwächen-Analyse und von Befragungen sowie in Zusammenarbeit mit Hoteliers, Gastronomen und anderen Leistungsträgern der Branche eine neue Strategie entwickelt. Die neue „Leitzielgruppe“ ist in der Sprache der Marketingfachleute „das postmaterielle Milieu an der Schnittstelle zur adaptiv-pragmatischen Mitte“. Will heißen: Es geht um die Mittelschicht und obere Mittelschicht mit einem Hang zu Genuss, Geselligkeit, Individualisierung und Selbstverwirklichung.
Diskutiert wurde nicht
Das bedeutet laut Obier aber nicht, dass Rüdesheim anderen Gästen wie überzeugten Ökofreaks oder reichen Unternehmern den Stuhl vor die Tür setzt. Vielmehr führe eine erfolgreiche Zielgruppenstrategie dazu, dass andere Gäste nicht abgeschreckt, sondern angezogen werden. Obier verweist auf aus seiner Sicht positive Beispiele wie Baiersbronn, Kitzbühel, Tirol, Norderney und St. Moritz, die jeweils ein klares Profil haben und eine eindeutige Botschaft nach außen tragen. „Das können wir auch“, ermunterte Obier die Vertreter des Rüdesheimer Tourismus, die am Ende des Vortrags aber eher verhalten reagierten. Diskutiert wurde nicht, Nachfragen gab es nur eine.
Im Kern soll es Rüdesheim künftig um „Lebensfreude am Rhein“ gehen. Das soll die Essenz der neuen Strategie sein und sich in allen Werbemitteln, vor allem aber in der Bildersprache zeigen. Mithin soll es künftig keine leeren Weinbergslandschaften mehr als Fotomotiv geben, sondern Geselligkeit. Wenn die Stadt die nächsten zehn Jahre in diese Richtung hinarbeite, stehe am Ende ein „hochwertiges Profil“, ist Obier überzeugt. Rüdesheim könne zur „Erlebnisdestination“ am Rhein für aktive und qualitätsorientierte Genießer werden.
Das ist zumindest die Vision von Obier. Die Stadt müsse Tourismus „als Lebensader und nicht nur als Geschäftszweig“ anerkennen. Zudem müsse das zur Verfügung stehende Budget zielgerichteter eingesetzt werden. Dann habe Rüdesheim die große Chance, den nun definierten Weg zu gehen „und in zehn Jahren deutlich besser dazustehen“.