Suizid von Kindern : „Am schlimmsten ist, wenn die Leute sagen, wie stark ich doch sei“
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Joel „Dusty“ Rhodes im früheren Kinderzimmer seiner Tochter Bild: Samira Schulz
Die Tochter von „Dusty“ Rhodes nahm sich im Alter von 13 Jahren das Leben. Er sagt, niemand soll sich so fühlen müssen wie er – und organisiert deshalb ein Softballturnier in Darmstadt.
An diesem Wochenende wird Joel Rhodes, den alle „Dusty“ nennen, fünf Minuten lang sprechen, und sie werden ihm alles abverlangen. Er wird auf einem Sportplatz stehen und sich bedanken, dass so viele gekommen sind. Und dann von seiner 13 Jahre alten Tochter Ciarra Joi Rhodes reden, über das, was an jenem Tag im Dezember 2013 passierte. Es war ein Dienstag, und Dusty wollte gerade los zur Arbeit. Dann hörte er seine Frau schreien.
Es gab keinen Abschiedsbrief, nichts. „Schuld und Versagen, das dominiert mich am meisten, immer noch. Aber ich empfinde keine Scham. Das ist ein Unterschied.“ Über den Schmerz zu sprechen beherrscht sein Leben, weil er sich dazu zwingt.
Dusty lebt noch immer in dem Haus, in dem seine Tochter keinen Ausweg außer den Tod sah, in einer ruhigen Straße in Groß-Gerau. Er ist Amerikaner, kommt aus Cleveland, Ohio, ein kräftiger Mann Mitte fünfzig mit tätowierten Armen und Gel im Haar. „Am schlimmsten ist, wenn die Leute sagen, wie stark ich doch sei“, sagt er. „Ich hatte keine Wahl.“
Es begann mit Kopfschmerzen
Dusty hat lange in der amerikanischen Armee gedient, war auch im Irak stationiert, weiß, wie es sich anfühlt, wenn Menschen sterben, die eben noch da waren, kerngesund. Aber nichts ist vergleichbar mit dem, was in Stille in seinem eigenen Haus geschah. „Ich werde nie verstehen, warum“, sagt er. „Deshalb habe ich aufgehört, mir diese Frage zu stellen.“
Dustys Augen werden rot, wenn er Ciarras Namen ausspricht, aber er hört nicht auf zu sprechen. Schweigen, das weiß er, kann tödlich sein. An der Wand im Wohnzimmer hängt ein Emblem aus Holz mit Ciarras Initialen „CJR – In loving memory“ steht drauf, darunter ein Foto von ihr. Auch die Kunst auf seinen Armen erinnert an seine Tochter – und seine Frau, die drei Jahre nach dem Tod des Kindes starb.
Es habe mit Kopfschmerzen begonnen, sagt Dusty, dann habe sich ihr Zustand über Monate im Krankenhaus verschlechtert. Einen biologischen Grund, warum sie starb, konnten die Ärzte nie ausmachen. Dusty glaubt, sie habe das Leben ohne ihre Tochter einfach nicht aushalten können.
Am Wochenende also wird er wieder reden müssen, in Darmstadt. Ein Softballturnier soll dort drei Tage lang an Ciarra erinnern. Die Idee kam von Freunden, es findet seit 2014 jährlich statt. Und Dusty muss zumindest für einen Moment Anspannung in die eigentlich lockere Atmosphäre bringen. „Ich würde buchstäblich lieber einen Marathon laufen. Ich liebe-hasse dieses Wochenende“, sagt er. Er wolle die Aufmerksamkeit für seine Person nicht, aber Suizid und seine Prävention müssten genau diese Aufmerksamkeit bekommen.
Dusty hat bis zu Ciarras Tod keine Anzeichen dafür gesehen, dass sie tödliche Gedanken bestimmt haben. Sie sei nicht verschlossen gewesen, im Gegenteil. Er habe mit ihr eine Abmachung gehabt, dass ihr Handy nachts im Wohnzimmer bleibt. Auch habe es die Vereinbarung gegeben, dass er regelmäßig überprüfen durfte, was sie auf dem Gerät trieb, etwa, mit wem sie schrieb. Sie sei sogar vorsorglich hin und wieder zur Therapie gegangen. Um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Und alles war immer in Ordnung.
„Was bringt es mir, ein anderes Kind zu hassen?“
„Ich bin ihr Vater, also natürlich spreche ich so über sie: Aber sie hat sich immer für andere eingesetzt“, sagt Dusty. So habe sie etwa schon als Kind Cupcakes gebacken, um damit bei Softballturnieren Spenden zu sammeln und an ein Kind in Nepal zu schicken. Inzwischen glaubt Dusty, dass Ciarra an Mobbing gelitten haben könnte. Die Mutter einer gemobbten Schulkameradin hatte ihr Kind aus der Schule genommen, Ciarra könnte das neue Ziel der Häme gewesen sein. Aber auch diese Erklärung ändere nichts. „Was bringt es mir, ein anderes Kind zu hassen?“
Es sei furchtbar gewesen, bei der Beerdigung seiner Tochter mit dem Rücken gewandt zum Grab zu stehen und 300 Leute zu umarmen, die ihn haben unterstützen wollen. Auch Trauerkarten – was sollte er damit anfangen? Geholfen hätten seine Freunde und Familie. „Sie waren da, genau hier, als ich sie brauchte.“ In Ciarras Zimmer steht jetzt ein anderer Schrank. Am Tag der Beerdigung seiner Frau nahm er ihn mit seinem Schwager und einem Freund auseinander, schmiss ihn aus dem Fenster und verbrannte alles, das Holz, die schwarzen Anzüge, die sie trugen.
Das Softballturnier findet auf dem Memory Field in Darmstadt statt, dem Gelände der Darmstadt Whippets, eines Baseball-Klubs, der sich in diesem Jahr als Austragungsort angeboten habe. Dustys Schwester fliegt jedes Jahr für das Turnier nach Deutschland. „Jeder kann kommen“, sagt Dusty. Das Turnier soll Spaß machen, dient aber dem ernsten Zweck, Spenden für Organisationen zu sammeln, die sich für Suizidprävention einsetzen. „Wir decken die Kosten für das Turnier mit den Einnahmen, den Rest spenden wir.“ Über die Jahre seien so insgesamt 90.000 Euro zusammengekommen.
„Ein Suizid verändert Hunderte Leben“, sagt Dusty. Dem Menschen, der ihn begehe, sei das überhaupt nicht klar. Er weiß das, weil er selbst diese Gedanken hatte und in diesem Moment gar nicht darüber nachdachte. Seit ein paar Jahren hat er eine neue Frau. Laura, die es geduldig erträgt, wenn Dusty sie beim falschen Namen nennt, dem seiner ersten Frau. „Das ist mir bestimmt schon tausend Mal passiert“, sagt er. Eines Abends nach einem schönen Tag aber habe er ihr gesagt: „Ich will bei meiner Familie sein.“ Laura ließ ihn nicht aus dem Haus – und holte Hilfe. Drei Wochen verbrachte er in einer Klinik. Und sein Leben ging, trotz allem, weiter.
Gibt es irgendwas, das ihm in alldem Hoffnung gibt?
„Hoffnung, puh. Die Frage wurde mir noch nie gestellt.“
Dustys Leben rettet das anderer. Mehr als zehn Menschen seien schon auf ihn zugekommen und hätten ihm gesagt: „Ich hatte den Plan, mir das Leben zu nehmen, ich wusste wann und wo, aber ich habe an euch gedacht, an das Turnier, und ich habe es nicht gemacht und mir Hilfe geholt.“
„Ich weiß nicht, ob das Hoffnung ist“, sagt Dusty. „Aber es ist ein Ergebnis.“
Hilfe bei Suizidgedanken
Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie – auch anonym – mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.
Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.
Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.
Ebenfalls von der Telefonseelsorge kommt das Angebot eines Hilfe-Chats. Die Anmeldung erfolgt auf der Website der Telefonseelsorge. Den Chatraum kann man auch ohne vereinbarten Termin betreten. Sollte kein Berater frei sein, klappt es in jedem Fall mit einem gebuchten Termin.
Das dritte Angebot der Telefonseelsorge ist die Möglichkeit der E-Mail-Beratung. Auf der Seite der Telefonseelsorge melden Sie sich an und können Ihre Nachrichten schreiben und Antworten der Berater lesen. So taucht der E-Mail-Verkehr nicht in Ihren normalen Postfächern auf.
Das Softballturnier in Darmstadt
Am Freitag um 18.30 Uhr kann jeder für zehn Euro beim „Home Run Derby“ auf dem Memory Field mitmachen. Der Erlös geht an das Darmstädter Kriseninterventionsprojekt „ANNA“. Am 27. und 28. Mai wird das eigentliche Turnier zwischen acht Teams ausgetragen, Spielbeginn ist jeweils von 8 Uhr an. Am Samstag um 19.30 Uhr findet eine Tombola-Auktion statt, die Erlöse gehen jeweils zur Hälfte an den AGUS-Verein Deutschland und die „American Foundation for Suicide Prevention“.