Reformhaus-Chef Herrmann : Filialen für ganzheitliche Gesundheit
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Reiner Herrmann hat mehr als 40 Reformhäuser in fünf Bundesländern. Dabei hat er ursprünglich Maschinenschlosser gelernt. Die Reformhaus-Branche in Deutschland hat er aber sicherlich geprägt.
Ungefähr tausend Reformhäuser gibt es in Deutschland, und mehr als 40 davon gehören Reiner Herrmann. Für das Treffen hat der 64 Jahre alte Oberurseler die frisch renovierte Filiale an der Louisenstraße in Bad Homburg vorgeschlagen. Der Verkaufsraum ist hell, die Gänge zwischen den Regalen sind breit. Herrmann führt aber nicht zwischen Gemüse-Hefebouillon, Nussmus und Gewürzen herum, sondern in einen Besprechungsraum hinter dem Laden. Vor Kurzem hat er einen Preis bekommen, aber davon spricht er erst einmal nicht. Stattdessen erzählt der Reformhausunternehmer, wie alles angefangen hat, damals, nach der Lehre als Maschinenschlosser in Bad Homburg und der Bundeswehrzeit.
„Ich wollte nicht 40 Jahre in einer Montagehalle stehen“, erinnert er sich. Der Vater einer Jugendfreundin arbeitete in der Reformhausbranche, und mit Natur und Menschen zu arbeiten leuchtete Herrmann ein. Also begann er 1980 eine zweite Ausbildung im Königsteiner Reformhaus Gottschalk: als Einzelhandelskaufmann mit Schwerpunkt Diät- und Reformwaren. Erst haben ihn die Eltern für verrückt erklärt, auch weil die verpflichtenden Kurse der Reformhaus-Fachakademie in Oberursel-Oberstedten 12.000 Mark kosteten. Viel später leitete die Mutter eine seiner Filialen, und auch der Vater aß Reformprodukte.
Absolut gegen Fleisch und Alkohol zu sein, erschien ihm verkehrt
Herrmanns Kinder Stefanie, Christian und Philipp bekamen vor Klassenarbeiten das Energiedepot-Pulver Molat von Dr. Grandel; heute arbeiten sie im Familienunternehmen mit. Das besteht aus 42 Reformhäusern in fünf Bundesländern, die meisten sind im Rhein-Main-Gebiet. Im Jahr 2020 hat Herrmann die zwölf Freya-Reformhäuser des verstorbenen Frankfurter Unternehmers Roland Fiedler übernommen. Die Freya-Schilder hat er an den Geschäften hängen lassen. Die Filiale in Bad Homburg heißt dagegen Liwell, wie viele seiner Häuser – und seine Eigenmarke.
Nachdem er nach der Ausbildung eine Weile für das Reformhaus Buch in Hofheim gearbeitet hatte, kaufte Herrmann 1984 sein erstes Reformhaus in Bretten in Baden-Württemberg. Eigentlich war es eine Drogerie mit einem Reformwarendepot, aber er wandelte es um. Die Foto-Quelle-Abteilung betrieb er zunächst weiter, weil sich das auszahlte. Bis morgens um vier habe er gemalert, Regale aufgebaut, Wände eingezogen. Nach wenigen Monaten habe das Königsteiner Paar, bei dem er gelernt hatte, in seinem Laden gestanden: „Du, Reiner, wir wollen aufhören. Willst du unser Geschäft übernehmen?“ Reiner Herrmann wollte, und so ging es immer weiter, wenn ihm ein Reformhausinhaber dieselbe Frage stellte.
Das dritte Reformhaus war in Bad Soden. 1986 zog die junge Familie nach Oberursel, und Herrmann begann bald, sich auch in der Reformhaus-Genossenschaft zu engagieren, die damals Neuform hieß. Die Branche war im späten 19. Jahrhundert aus der Lebensreformbewegung entstanden. Die fand er „toll, aber zu starr, zu sehr mit erhobenem Zeigefinger“. Absolut gegen Fleisch und Alkohol zu sein, erschien ihm verkehrt. Mit 30 Jahren wurde er, wie er berichtet, in den Aufsichtsrat gewählt und warb für mehr Offenheit. Es war die Zeit, in der überall Naturkostläden entstanden.
Mit seinem Vorschlag, doch an allen Reformhaus-Standorten auch einen Naturkostladen zu eröffnen, habe er sich in der Genossenschaft aber nicht durchsetzen können. „Reformhäuser verkaufen ganzheitliche Gesundheit, Naturkostläden bloß Bio“, erläutert Herrmann. „Für uns ist ein Bioweißmehlbrötchen nicht gesund.“ Die Kollegen haben nicht weg gewollt von den Prinzipien. Herrmann, der sich selbst als „positimistisch“ bezeichnet, ging es damals schlicht darum, „den Markt zu besetzen“. Auch er meint: „Bio kann auch jede Tankstelle verkaufen.“ Dasselbe gelte heute für Discounter – aber dort fehle die Beratung, die seiner Ansicht nach das Reformhaus auszeichnet. In seinen Filialen verkauft Herrmann inzwischen auch Alkohol. „Ein guter Biowein gehört dazu.“ Aber nur in einem Laden gibt es Fleisch.
Es kommen immer noch viele Stammkunden
Er kennt noch alle Daten auswendig, zu denen wieder Läden hinzukamen, zum Beispiel: Oberursel 1989. Oder Bad Homburg 2000. Früher hatte die Reformhaus-Genossenschaft einmal 1700 Mitglieder, jetzt sind es nur noch 276. Die Konzentration in der Branche schreitet voran, oder, wie Herrmann sagt: „Die Filialisierung nimmt immer mehr zu.“
Auch die Kundschaft habe sich über die Jahrzehnte verändert, sei gestresster, fordernder geworden. Es kommen aber immer noch viele Stammkunden. „Die steuern dann zielgerichtet eine ganz bestimmte Mitarbeiterin an.“ Manche kaufen auch einmal im Monat immer dasselbe Produkt. Herrmann versucht, mit der Zeit zu gehen. Die Tochter hilft dabei, zum Beispiel mit Social Media. Stefanie Neininger sagt aber selbst, dass im Reformhaus manches anders funktioniert. Zum Beispiel mit Mundpropaganda. Auch das neue Unverpackt-Regal werde „bei uns nicht gesucht“. Und die „eingefleischten Veganer“ kaufen auch eher nicht im Reformhaus ein.
Am Ende kommt Herrmann noch auf den Lebenswerkpreis der Reformhaus eG und der Reformhaus Fachakademie zu sprechen. Den hat er vor Kurzem in deren Räumen in Oberursel-Oberstedten bei der Generalversammlung erhalten – für seine Verdienste für die Branche und die Genossenschaft, deren Aufsichtsratsvorsitzender er bis zum vergangenen Jahr war.
Als er berichtet, dass diese Auszeichnung bisher nur acht Leute erhalten haben, leuchten seine Augen. Andere Preisträger seien „Herstellerpersönlichkeiten“ wie die Naturkosmetik-Pionierin Annemarie Lindner von der Marke „Annemarie Börlind“ und Otto Greither vom großen Reformkost-Unternehmen Salus gewesen. Nicht jeder kennt die beiden. Aber jeder, der mit Reformwaren zu tun hat. Reiner Herrmann will 2026, wenn er 69 ist, alles an die Kinder übergeben. Im November dieses Jahres eröffnet er erst einmal wieder eine Filiale. Nummer 43.