Eine Wohnung nach ihrem Geschmack: Ingeborg Wolf hat das Appartement in der Seniorenwohnanlage Rosenhof in Kronberg im Taunus selbst eingerichtet. Bild: Domenic Driessen
Ingeborg Wolf : Jahreszahlen eines Lebens
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Innenarchitektin Ingeborg Wolf wird 107 Jahre alt. Vor kurzem noch hat sie eine Wohnung eingerichtet. Und sie hält als Model ihr Idealgewicht.
Im Juli 1915 beginnt die Ostoffensive der Mittelmächte, in Deutsch-Südwestafrika kapitulieren die deutschen Schutztruppen, und in Thorn an der Weichsel wird ein Kind geboren, das heute noch lebt. Und wie.
In ihrem Appartement in Kronberg im Taunus erklärt Ingeborg Wolf gleich zur Begrüßung, warum ihr Kurzhaarschnitt, obwohl frisch gewaschen, so schlecht sitze. Was Außenstehende gar nicht finden können. Aber Wolf, in einem Trenchkleid, mit langer Perlenkette und Goldohrringen, zupft ungehalten an einer weißen Strähne über dem Ohr. Auch der Rollator, auf den sie sich stützt, bedarf aus ihrer Sicht der Erläuterung. „Seit drei Jahren kann ich nicht mehr alleine stehen.“ Dabei sei sie mit Ende 90 noch Ski gefahren.
„107 ist keine Kleinigkeit“, fasst die kleine, zierliche Frau zusammen, noch bevor sie sich an den glänzend lackierten Holztisch mit dem blassrosa Rosenstrauß setzt. 107 – so alt wird Ingeborg Wolf an diesem Sonntag. An jenem Nachmittag hat sie schon die Hälfte der 40 Einladungen geschrieben. Es ist noch mehr als eine Woche Zeit bis zu den Feiern in einem Restaurant im Taunus und in der Kronberger Seniorenwohnanlage, in der sie seit einem Vierteljahrhundert lebt.
„Mutti ist ständig da“
Und so spricht die noch Hundertsechsjährige über 1915 und die Jahre danach, die früheste Kindheit im Ersten Weltkrieg: „Es waren harte Winter, wir haben gefroren und hatten wenig zu essen.“ Drei Jahre lang habe sie eine Mittelohrentzündung gehabt. Für Ingeborg Wolf ist das der Grund dafür, dass sie schon früh eines dieser lästigen Hörgeräte brauchte – mit 70. „Seit 1995 kann ich keine Musik mehr hören.“
Wolf steht noch immer, als sie sagt: „Meine Mutter ist gestorben, als ich sieben war. Nein, ich war zehn, sah aber aus wie sieben.“ Das war 1926. Auch nachdem die alte Dame sich schließlich langsam, vorsichtig und mithilfe einer Freundin, die oft vorbeikommt, am Tisch niedergelassen hat, spricht sie immer wieder von der Mutter. „Mutti ist ständig da“, sagt die alte Tochter, die selbst keine Kinder hat, fast ein Jahrhundert nach dem Tod der Mutter. „Mein Vater war der große Wissenschaftler, meine Mutter die künstlerisch Angehauchte.“
Der Kieferchirurg habe in Rostock das erste stomatologische Krankenhaus in Europa geleitet, berichtet Wolf, und sie übersetzt auch ungefragt, was stomatologisch meint: alles, was die Mundhöhle betrifft. Auf fast jede Frage hat sie eine prompte, präzise Antwort – und die Jahreszahlen ihres Lebens alle parat. Ihr Lieblingsfach in der Schule? „Latein!“ Griechisch hat sie auch gelernt, was sie mit einer längeren Deklamation aus der Ilias vorführt. Ingeborg Wolf sagt vorher nicht, ich kann noch was aus der Ilias von Homer, sondern sie zitiert einfach. Die hellen, graublauen Augen schauen dabei nach innen.