Fahrradwege in Darmstadt : Autofahrer werden es spüren
- -Aktualisiert am
Vier Spuren statt Kopfsteinpflaster: Für Radfahrer soll ein Expressweg in die Darmstädter Innenstadt gebaut werden. Bild: Wolfgang Eilmes
Darmstadt will zu einer Musterstadt für den Radverkehr werden. 16 Millionen Euro stehen die nächsten vier Jahre für diese Politikwende zur Verfügung. Damit ist die Stadt Vorreiter auf dem Gebiet.
Darmstadts Zukunft als fahrradfreundliche Stadt nimmt langsam Gestalt an. Auf der mittleren Rheinstraße kann man seit Wochen besichtigen, wie nach und nach alle Hauptverkehrsstraßen umgebaut werden sollen. Hier hat die Kommune auf einigen 100 Metern eine Radverkehrsanlage gestaltet, die als Maßstab für die Umsetzung des „Qualitätsradnetzes“ gilt und damit Modellcharakter hat: ein komfortabler und farblich gekennzeichneter Radweg, der vom Bürgersteig getrennt und durch Poller vor Autofahrern geschützt ist. Auf diesem Stück fährt es sich mit dem Fahrrad sehr entspannt. Und damit ganz anders als auf vielen anderen Straßen der Stadt.
Für das ambitionierte Programm zur „Verkehrswende“ vom Auto aufs Rad, für das über vier Jahre hinweg jeweils vier Millionen Euro zur Verfügung stehen, hat es mehrere Anstöße gegeben, darunter tragische. In den vergangenen Jahren sind in Darmstadt mehrere Radfahrer tödlich verunglückt. Das hat der Initiative von Darmstädtern für einen Radentscheid mit dem Ziel, die Situation für Radfahrer zu verbessern, im vergangenen Jahr eine zusätzliche Dringlichkeit verliehen. In kurzer Zeit konnten die Initiatoren 11.504 Unterschriften für das angestrebte Bürgerbegehren sammeln, mit dem sieben Forderungen, vom Bau neuer Radwege bis zu Bordsteinabsenkungen, durchgesetzt werden sollten. Dazu ist es nicht gekommen, weil aus rechtlichen Gründen die Stadtverordneten das Begehren nicht zuließen.
Die Fraktionen beschlossen aber das Programm „4×4 für den Radverkehr“ mit einem Volumen von 16 Millionen Euro, und die grün-schwarze Koalition startete im August 2018 Verhandlungen mit der Bürgerinitiative über die Umsetzung ihrer Forderungen – ganz ähnlich wie in Frankfurt. Dass es sich um eine wirkliche Verkehrswende handelt, werden bald viele Autofahrer spüren.
Vor der Sommerpause haben die Fraktionen eine mit den Radentscheid-Vertretern ausgehandelte „Radstrategie“ verabschiedet, die Leitlinien und Grundsätze zur weiteren Förderung des Radverkehrs beschreibt. Darin wird als Ziel ausgegeben, den Anteil des Radverkehrs am städtischen Gesamtverkehr, den sogenannten Modal Split, bis 2030 auf 30 Prozent zu steigern. Nach der jüngsten Erhebung von 2013 lag er bei 17 Prozent. Die benötigten Flächen für neue Radwege sollen „zum größten Teil von Flächen des bislang räumlich vorherrschenden Autoverkehrs bereitzustellen sein“, heißt es in dem Papier. Vor allem werden Parkplätze wegfallen.
Außergewöhnlich ausgereift und durchtaktet
Ein Kennzeichen der grün-schwarzen Koalition ist ihr feines Gespür für politische Stimmungen in der Stadt. Sobald sich Protests melden, in der Verkehrspolitik, beim Schulneubau, steuert Oberbürgermeister Jochen Partsch (Die Grünen) nach. Mit der Radstrategie glaubt Partsch mittlerweile nicht nur die für den Radverkehr kämpfenden Kritiker seiner Verkehrspolitik mitgenommen zu haben, sondern auch Maßstäbe über Darmstadt hinaus zu setzen. Alle Planungen basierten auf der bundesweiten technischen Richtlinie „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“. Ziel sei es, robuste Nord-Süd- und Ost-West-Radrouten zu schaffen ähnlich dem Abschnitt auf der Rheinstraße. Damit die „Qualitätsoffensive“ ihren Namen verdient, wurde die 23 Punkte umfassende Radstrategie unter Einbeziehung von Experten erarbeitet wie dem ADFC-Bundesgeschäftsführer Burghard Stork und dem Wissenschaftler Jürgen Follmann von der Hochschule Darmstadt.
Wie sieht eine Radstadt nach Darmstädter Modell aus? Es gibt ein Hauptradnetz und ein Nebenstraßennetz, für das bestimmte Standards wie zum Beispiel die Regelbreite von 2,30 Metern gilt. Der Radschnellweg von Frankfurt nach Darmstadt, dessen erstes, knapp vier Kilometer langes Teilstück von Egelsbach bis Wixhausen im Juni eröffnet wurde, wird weiter ausgebaut und ans Stadtzentrum angeschlossen. Kreuzungen bekommen Aufstellflächen und vorgezogene Haltelinien für Radfahrer. Weitere Straßen werden als „Fahrradstraßen“ deklariert, mehr Radabstellanlagen eingerichtet, Radwege im Seitenraum bekommen eine Rotfärbung. Zählstellen sollen erheben, wie viele Darmstädter das Rad nutzen. Die Stadtverwaltung hat künftig quartalsweise über die Umsetzung der Strategie zu berichten. Schon nach der Sommerpause soll die Radstrategie durch einen zeitlichen Fahrplan ergänzt werden, aus dem ersichtlich ist, wann welche Umbauvorhaben in den nächsten vier Jahren umgesetzt werden. Das alles ist selbst nach den hohen Standards Darmstädter Planungskultur konzeptionell außergewöhnlich ausgereift und durchtaktet.
Kein Wunder also, dass die Initiative Radentscheid sehr zufrieden ist. Mit einem Bürgerentscheid hätte sie kaum mehr erreichen können. Initiator David Grünewald spricht von einem riesigen Schritt nach vorne: „Wir sehen den neuen Mut der Stadt und guten Willen, spürbare Verbesserungen für den Radverkehr tatsächlich umzusetzen“. Wie nötig dies ist, hatte die Initiative zusammen mit der Gruppe „Darmstadt fährt Rad“ im Mai noch einmal zu untermauern versucht, mit der Veröffentlichung einer Bestandsaufnahme von rund 135 Straßenkilometern. Zwei Drittel bestanden darin ihren Qualitätstest nicht. Wie die Fahrradfreunde ausgerechnet haben, bedeuten die 16 Millionen Euro für den Ausbau der Radinfrastruktur eine Investition von 26 Euro je Bürger und Jahr. Das sei mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Dass aber noch viel Luft nach oben ist, verdeutlichst der hessische „Fahrradklima-Test“ des ADFC. Darmstadt landete 2018 auf Rang 34. Das ist bei 71 Plätzen insgesamt nur Mittelmaß, wenngleich immer noch besser als Frankfurt (44), Kassel (57) und Wiesbaden (70). Die Fahrrad-Laterne trägt beim ADFC die Kurstadt Bad Homburg.