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NSU-Mord in Kassel : Warum das Unglaubliche manchen glaubhaft erscheint

  • -Aktualisiert am

Im Gegenwind: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier im Februar 2015 in Berlin. Bild: dpa

Neun Jahre nach dem Kasseler NSU-Mord bringt ein Telefonat zwischen Verfassungsschützern den Ministerpräsidenten in Erklärungsnot. Die Liste der Ungereimtheiten wird immer länger.

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          Was vor und nach dem Mord an dem Kasseler Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat im April 2006 geschehen ist, steht symptomatisch für das Versagen von Polizei und Geheimdiensten in der Aufklärung der NSU-Morde. Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) war in seinem damaligen Amt als Innenminister oberster Dienstherr der hessischen Sicherheitsbehörden, deshalb trägt er für deren Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Versagen die politische Verantwortung. Zumindest insofern ist der Fall Yozgat auch ein Fall Bouffier. Die Frage, ob der heutige Regierungschef über diese Verantwortlichkeit hinaus vor neun Jahren selbst schwerwiegende Fehler begangen hat, ob er die Aufklärung der NSU-Mordserie behindert oder deren Fortgang möglicherweise in Kauf genommen hat, soll ein Untersuchungsausschuss des Landtags klären.

          Ralf Euler
          Redakteur in der Rhein-Main-Zeitung, verantwortlich für den Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Die Opposition äußert nach den jüngsten Veröffentlichungen über ein abgehörtes Telefongespräch zwischen Verfassungsschützern den Verdacht, dass die Führung des hessischen Geheimdienstes von den Taten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, kurz NSU, gewusst und die Mörder gedeckt habe. Mehr noch: Der damalige Innenminister habe Informationen zurückgehalten und die Ermittlungen behindert. Unterstellt wird, dass die Behörde einen Mord vertuscht und Bouffier das gebilligt oder gar unterstützt hat. Möglicherweise, heißt es, hätten der Mord an Yozgat und auch jener an der Polizisten Michèle Kiesewetter in Heilbronn ein Jahr später verhindert werden können, wenn alle Informationen weitergegeben worden wären.

          Verfassungsschützer unter Mordverdacht

          Abwegige, weil in ihrer Konsequenz unfassbare Anschuldigungen? Bouffier weist die Vorwürfe als unverschämt zurück. Er habe 2006 „nach Recht und Gesetz und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“. Allerdings hat nicht nur der Verfassungsschutz, sondern auch er selbst dazu beigetragen, dass die Verunsicherung um den Kasseler NSU-Mord ein Ausmaß erreicht, das manchen selbst das Unglaubliche glaubhaft erscheinen lässt. Die Liste der Ungereimtheiten wird immer länger.

          Am 6.April 2006 wurde der 21 Jahre alte Yozgat in seinem Internet-Café erschossen. Rein zufällig, wie er beteuert, war der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas T. zur Tatzeit am Tatort. Die Schüsse will er aber nicht gehört und die Leiche nicht gesehen haben. Gegen T. wurde damals ermittelt, zeitweise galt er als Mordverdächtiger. Die Polizei hörte Telefonate des Verfassungsschützers mit seinen Vorgesetzten ab. In den Akten des Prozesses gegen die mutmaßliche NSU-Mittäterin Beate Zschäpe in München finden sich nur Zusammenfassungen der Telefonüberwachung. Anwälte der Familie Yozgat haben die Tonbänder aber, wie die „Welt am Sonntag“ berichtete, abermals ausgewertet.

          Was sich Bouffier fragen lassen muss

          Demnach ist darin zu hören, wie T. vom Geheimschutzbeauftragten des Verfassungsschutzes auf seine Vernehmung vorbereitet und dann beschieden wird: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Das kann man so verstehen, als habe die Behörde von T.s Anwesenheit am Tatort gewusst. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um eine geschmacklose Bemerkung ohne konkreten Bezug zu den tatsächlichen Geschehnissen. Die Anwälte der Familie Yozgat werten das Telefonat als Indiz dafür, dass Mitarbeiter des Verfassungsschutzes schon vor dem Kasseler Mord von der Tat und den Tätern wussten. Schließlich habe T. dem Anrufer nicht widersprochen. Die Landtagsfraktionen sind sich einig, dass die Mitschriften der abgehörten Telefonate dem Untersuchungsausschuss so bald wie möglich zur Verfügung gestellt werden müssen. Wann das geschieht, ist allerdings noch offen.

          Der Innenminister verweigerte es 2006 der Kasseler Polizei, mehrere von T. geführte Informanten aus der rechtsextremen und der islamistischen Szene Auge in Auge zu vernehmen. Aus Sicht der Opposition war das ein Fehler. Bouffier müsse sich fragen lassen, warum er die geforderte Befragung verhindert habe, sagt die SPD-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss, Nancy Faeser. Bouffier verteidigt sich damit, dass der Verfassungsschutz ihm glaubhaft dargelegt habe, dass die Enttarnung der von T. geführten V-Leute aus der islamistischen Szene „schwere Nachteile für die Sicherheit in Hessen und Deutschland“ haben könne. Die Frage, ob T., der Verfassungsschutz und das Innenministerium die Polizei und das Parlament bei den Ermittlungen „hinters Licht“ geführt hätten, stelle sich ihm nicht mehr, sagt der Linken-Abgeordnete Hermann Schaus. Offen sei nur noch, warum sie es getan hätten.

          Die Rätsel mehren sich

          Die Regierungsfraktionen CDU und Grüne setzen auf Fakten, eine konzentrierte Arbeit und die vorrangige Bearbeitung des Komplexes Telefonüberwachung im Untersuchungsausschuss. Bouffier weist indes auch Vorwürfe energisch zurück, er habe im Juli 2006 im Innenausschuss des Landtags gelogen. Damals hatte der Minister den Eindruck erweckt, erst den Medien entnommen zu haben, dass in Kassel ein Verfassungsschützer am Tatort gewesen sei. Wörtlich sagte er: „Dass Abgeordnete etwas aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Minister, ist betrüblich – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt.“ Im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags stellte sich im September 2012 allerdings heraus, dass Bouffier schon im April 2006 von T.s Rolle erfahren hatte. Am Dienstag erläuterte Bouffier vor der Presse, dass sich seine Aussage im Ausschuss lediglich auf seine Unkenntnis eines angeblichen Alibis von T., nicht auf dessen Anwesenheit am Tatort bezogen habe.

          Fast acht Monate nach der Konstituierung des NSU-Untersuchungsausschusses in Wiesbaden sind die Rätsel und Ungereimtheiten um den Tod Halit Yozgats noch größer und zahlreicher geworden. Mit ihrer zwischenzeitlichen Darstellung, der Kasseler Mord sei „ausermittelt“, hat die Bundesanwaltschaft der Kette von behördlichen Pleiten, Pannen und Peinlichkeiten eine weitere hinzugefügt.

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