Stiftungsdirektor Franz Kaspar belastet : Neue Schilderungen über Gewalt im St. Vincenzstift
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Das St. Vincenzstift: Schläge, sexuellen Missbrauch und psychische Gewalt gab es in der Einrichtung für Behinderte in Rüdesheim. Bild: dpa
Schläge und sexuelle Übergriffe gab es in dem Heim bis etwa 1980. Dem früheren Direktor Franz Kaspar wird vorgehalten, Hinweise missachtet zu haben.
Auch in der Zeit nach 1970 ist Kindern im St. Vincenzstift, einer großen Einrichtung für Behinderte in Rüdesheim-Aulhausen, Gewalt angetan worden. Das geht aus der Erhebung einer Telefonaktion vor, die am Donnerstag vorgestellt wurde. Sie belastet außer Ordensschwestern, Mitarbeitern und dem Heimarzt auch den damaligen Stiftungsdirektor Franz Kaspar. Wie Anrufer schilderten, ist er Mitteilungen über Gewalttaten nicht nachgegangen.
Im vergangenen Jahr hatte die Einrichtung eine umfangreiche Studie über Gewalt und Missbrauch an Heimkindern im Vincenzstift und in der benachbarten Jugendhilfe Marienhausen in der Zeit zwischen 1945 und 1970 vorgelegt. Danach hatten sich weitere Opfer gemeldet und über Gewalt nach 1970 berichtet. Um dem nachzugehen, initiierte der Leiter des Stifts, Caspar Söling, eine von Oktober 2013 bis Januar 2014 dauernde Telefonaktion, bei der sich Betroffene melden konnten. Siebenmal wurde dieses Angebot in Anspruch genommen, wie Söling und die mit der Auswertung betraute Annerose Siebert, Professorin an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Ravensburg Weingarten, schilderten. Kaspar, der spätere Generalvikar des inzwischen emeritierten Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst, stand dem Stift von 1970 bis 2006 vor. Er war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Gezwungen, Erbrochenes zu essen
Angerufen haben vier ehemalige Bewohner, Angehörige eines früheren Bewohners und eine ehemalige Mitarbeiterin. Ein Anruf bezog sich auf die von Salesianern geführte Jugendhilfe Marienhausen, sechs auf das Vincenzstift. „Wir sind traurig mit jedem, der sich gemeldet hat“, sagte Söling. Eine Lehre aus der Studie des vergangenen Jahres und der jetzigen Telefonaktion sei, „Systeme, die kranken Charakteren eine Plattform bieten“, zu verhindern.
Siebert zufolge berichteten für den Zeitraum von 1970 bis etwa 1980 alle Anrufer von körperlicher Gewalt, die sie selbst erfahren und/oder beobachtet hatten, etwa durch Nonnen. Ein Anrufer berichtete, wie er geschlagen, ein anderer, wie er gezwungen wurde, Erbrochenes zu essen. Schilderungen sexuellen Missbrauchs beziehen sich auf einen angehenden Pfarrer und eine Nonne, eine nicht näher beschriebene Frau (Der Anrufer habe die Täterin nicht erkennen können, „da es immer dunkel war“) und auf den Heimarzt, der Söling zufolge schon seit 1947 im Stift arbeitete und Anfang der siebziger Jahre Mitglied der Leitungskonferenz wurde. Dessen zweimal im Jahr stattfindende Reihenuntersuchungen wertet Siebert als „strukturelle Rahmenbedingungen, die Übergriffe im größeren Umfang möglich erscheinen lassen“.
Kaspar reagierte unangemessen
Es gab auch psychische Gewalt. Beispielsweise berichten drei Anrufer davon, dass bei ihnen fälschlicherweise eine „Debilität“ diagnostiziert worden sei. Diese Diagnose und zusätzliche beständige Erniedrigung wirkten bis heute, so Siebert. Sie vermutet, dass von einer weitaus höheren Zahl Betroffener ausgegangen werden könne als den sieben Anrufern.
Drei Anrufer berichten Sieberts Auswertung zufolge, dass der damalige Stiftungsdirektor Kaspar nicht angemessen „auf die an ihn herangetragenen Informationen zu den verschiedenen Formen der Gewalt“ reagiert habe. Angeführt werden die Schilderungen einer früheren Mitarbeiterin und von Angehörigen eines ehemaligen Bewohners. Die Mitarbeiterin berichtet, dass sie 1974 dreimal bei Kaspar gewesen und ihn über „Prügel, Strafen und Demütigungen“ informiert habe. „Er hat mir nicht geglaubt und versichert, im St.Vincenzstift gebe es so etwas nicht und ihm sei darüber nichts bekannt.“ Zudem habe er Ordensfrauen und andere Leute gedeckt. „Zum Beispiel war der damalige Medizinalrat hochproblematisch.“ Die Angehörigen halten Kaspar zum Beispiel vor, ihre Bitte um eine genauere Kontrolle in den Gruppen abgewehrt zu haben. Ein Bewohner ist sich sicher, dass die Einrichtungsleitung auch um die Gewalt gewusst habe, die es vor 1970 gegeben habe.
Die Anrufer wünschen sich Siebert zufolge eine Bitte um Entschuldigung, vor allem von Kaspar und den Ordensschwestern. Um Entschuldigung baten der Orden der Armen Dienstmägde Jesu Christi, der in dem Haus tätig war, und die Josefs-Gesellschaft als Träger. Vom Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden jener Gesellschaft war Kaspar vor kurzem zurückgetreten. Zu dessen Rolle als Stiftungsdirektor wollte Söling nicht Stellung nehmen.