Meerholz : Nur heiraten wollte niemand an Europas Mitte
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Dezentral: Wegen des Beitritts Kroatiens rutscht der Gelnhäuser Stadtteil Meerholz aus der Mitte der Europäischen Union an den Rand. Bild: Wohlfahrt, Rainer
Mit dem EU-Beitritt Kroatiens liegt der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union nicht länger in Meerholz. Wohin er sich verschiebt, verrät der Staatenbund aber erst im Juli in Paris.
Sogar das chinesische Fernsehen war auf dem Acker. Es berichtete von dem Fleck oberhalb des Gelnhäuser Stadtteils Meerholz, von dem man einen herrlichem Blick hinab ins Kinzigtal hat. Plötzlich stand er, ohne dass sich dort Großes ereignet hätte, im Mittelpunkt und löste einen Medienhype aus. Minister und andere wichtige Politiker kamen, priesen unter wehenden Fahnen den europäischen Gedanken. Einheimische Künstler schmückten den Platz mit einem tonnenschweren Gemeinschaftswerk aus Rotsandstein. Vereine und Firmen feierten hier viele Feste, Schulklassen den Europatag. Wanderer erkoren ihn zum beliebten Ziel. Junge Paare sollten sich an diesem Ort das Ja-Wort geben.
Doch nach sechseinhalb Jahren ist wieder alles vorbei. Am 30. Juni 2013 ist der Flecken letztmals der geographische Mittelpunkt der Europäischen Union. Wohin er sich verschiebt, wenn am 1. Juli Kroatien als 28. Land dem Staatenbund beitritt, ist ein Geheimnis, das erst im Juli in Paris gelüftet wird.
Kaiser Barbarossa baute in Gelnhausen eine Pfalz
Die Gelnhäuser sind es seit dem Mittelalter gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen und dann irgendwann wieder die besondere, herausragende Stellung einzubüßen. Stauferkaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, baute hier eine Pfalz, von der aus er sein riesiges Reich regierte - leider immer nur für ein paar Wochen. Zeitweise bedeutender als Frankfurt und wirtschaftliches Zentrum, versank die einst freie Reichsstadt später in Armut und wurde, welch eine Schmach, die bis heute in manchem Gelnhäuser nachwirkt, an die Hanauer verpfändet. Schließlich mussten die Gelnhäuser in der jüngsten Neuzeit, bei der hessischen Gebietsreform im Jahre 1974, gar den Status als Kreisstadt an Hanau abgeben. Den aber holten sie sich, nun im Zentrum des größten hessischen Landkreises gelegen, mit Freuden im Juli 2005 zurück.
Einen zusätzlichen Kick gab dem nun wieder gestiegenen Selbstbewusstsein vieler Bürger nach der Erhebung zum Verwaltungssitz des Main-Kinzig-Kreises die unerwartete Ernennung zum geographischen Mittelpunkt der EU, den selbstverständlich die ganze Stadt für sich beansprucht hat. Es war ein glücklicher Zufall, dass die Berechnungen des Institut Géographique Nationale in Paris nach der bis dato letzten EU-Erweiterung auf die Koordinaten neun Grad, neun Minuten östlicher Länge und 50 Grad, zehn Minuten und 21 Sekunden nördlicher Breite fielen und damit auf den südlichsten Zipfel des Gelnhäuser Stadtteils Meerholz und nicht, wie man dort zunächst glaubte, auf die nur ein paar Schritte entfernte Gemeinde Hasselroth.
Europablau wohin man sieht in Meerholz
Die Meerhölzer, immerhin Besitzer eines Schlosses, das sie einst als Residenzstädtchen in Zeiten der deutschen Kleinstaaterei auswies, nutzten die Chance. Mit ihnen präsentierten sich alle Gelnhäuser als wahre Europäer und förderten den schon durch mehrere Städtepartnerschaften ausgeprägten Gedanken der Völkerverständigung. Blaue Schilder mit dem Hinweis auf Europas Mitte wurden an den Hauptstraßen aufgestellt, Feste veranstaltet. Selbst unten im Dorf war Europa überall präsent. Einheimische und Fremde liefen mit europablauen Mittelpunkt-T-Shirts für 16,90 Euro herum, drückten auf ihre Post den EU-Stempel, den man für zehn Euro erwerben konnte. Mittelpunkt-Silbermedaillen, die Kreissparkasse und Volksbank flugs herausgegeben hatten, waren für 25 Euro das Stück zu erwerben. Hausfrauen banden sich zum Kochen Europa-Schürzen um.
Hohe Gäste aus Fernost wollten beim Hessenbesuch unbedingt zu Europas Mitte geführt werden und in Meerholz das runde Mittelpunktbrot vom Bäcker Hänsel mit Herzchen und goldene Sterne tragenden blauen Mini-Papierfähnchen probieren. Ansichtskarten von der neuen Mitte gingen in alle Welt. Besucher ließen sich ungezählte Male auf dem Platz fotografieren.
Familien aus Übersee mit Namen „Meerholz“ reisten eigens an
Der von Flaggen und Ruhebänken gesäumte EU-Mittelpunkt mit der am 7. Juli 2007 enthüllten Skulptur, die mit Sand und Erde aus den 27 Mitgliedstaaten der EU gefüllt wurde, entwickelte sich für Jung und Alt zum internationalen Treffpunkt, an dem die Bürger aller Nationen der Gemeinschaft symbolisch vereint sind. Familien mit dem Namen „Meerholz“ aus Kanada und der Schweiz erfuhren von dem ungewöhnlichen Flecken Erde und reisten seinetwegen mit Kind und Kegel an. Sternwanderungen führten dorthin, und im Jahre 2010 wurde hier der 43. Europäische Kulturwanderweg eröffnet.
Treibende Kraft für ein buntes, gelegentlich Spendengelder für wohltätige Zwecke abwerfendes Geschehen wurde eine in Meerholz gegründete Initiative, deren Sprecherin Gerlinde Ickes heute ebenso wie Bürgermeister Thorsten Stolz (SPD) der Ansicht ist, dass sich der Einsatz gelohnt hat, wenngleich die anfängliche Anziehungskraft in den zurückliegenden zwei Jahren nachgelassen hat. Die Nachfrage nach Souvenirs ist abgeflaut. Es seien aber auch kaum noch welche zu haben, berichtet Reinhold Heeg, der sie in seinem Raumausstattungsgeschäft verkaufte.
Stolz ist keineswegs traurig, dass der europäische Mittelpunkt nun verlorengeht. „Es war eine schöne Zeit mit vielen schönen Begegnungen, ein Stück Europa zum Anfassen. Von vornherein war klar, dass dieser symbolträchtige Ort nur ein Geschenk auf Zeit bis zur nächsten EU-Erweiterung sein würde.“ Er habe nicht nur dem Europagedanken gedient, sondern auch die Aufmerksamkeit im In- und Ausland auf Gelnhausen gelenkt. Enttäuscht ist der Bürgermeister nur, dass keine jungen Paare das städtische Angebot ergriffen, sich an Europas Mitte am 9. September 2009 standesamtlich trauen zu lassen. Am 11. November 2011 und an anderen Tagen habe man es aufgrund dieser Erfahrung nicht wiederholt.