Wiesbadener Biennale : Wunder gibt es immer wieder
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Verworrene Beziehungen: Szene aus „Marta vom blauen Hügel”. Bild: Martin Kaufhold
Diesen Schauspielern zuzusehen ist ein Genuss: Die Wiesbadener Biennale „Neue Stücke aus Europa“ eröffnet mit Alvis Hermanis’ Stück „Marta vom blauen Hügel“.
„Kinder müssen ihren Namenstag im Sommer haben, wenn die Sonne eine lange Bahn wandert.“ Tante Marta, Martchen, die Blauberger Marta oder „Marta von den blauen Hügeln“, wie sie genannt wird, hat auch noch andere Weisheiten parat. Kein Rot soll die Dame tragen – nicht, weil es impertinent wirken könnte, sondern weil Rot Blut bedeutet und die Lebenskraft raubt.
Angesichts all der Leute, die heutzutage mit Heilsteinen, Chakras, Tarotkarten oder anderem hantieren, nehmen sich die mit Marienanrufungen gesättigten Wundertaten der Bäuerin Marta erst mal gar nicht so seltsam aus. Das Merkwürdige kommt erst etwas später in Alvis Hermanis’ Stück „Marta vom blauen Hügel“, das nun die Biennale „Neue Stücke aus Europa“ in Wiesbaden eröffnete. Parallel dazu lief im Kleinen Haus der italienische Eröffnungsbeitrag „Die Nutten“ – mit Hermanis aber, der gleich an drei Abenden spielt, ist bei der diesjährigen Biennale ein alter Bekannter zu Gast, der mittlerweile auch im Westen zum Regiestar avancierte.
Wer’s glaubt, wird selig
Einige der zwölf Schauspieler des Jaunais Rigas Teatris, die jetzt an einer langen Tafel in der Wartburg Platz nehmen, waren schon 2004 in Wiesbaden zu Gast. Einer nach dem anderen kommen sie herein, irgendwie alltäglich und doch jeder eine Charaktertype, in Auftreten, Kleidung, Frisur. Sie sitzen da wie eine Abendmahlsgesellschaft – und richtig: Gegen Ende gibt es auch eine Agape mit herumgereichtem Vollkornbrot. Auch die Heilkraft von Marta ging schließlich durch den Magen, mit gesegnetem Zucker und Petroleum, das gegen alles hilft, auch gegen Krebs.
Wer’s glaubt, wird selig: Die zwölf erzählen sich, wie Marta heilte und Wunder wirkte, immer schwärmerischer, immer näher an biblischen Apokryphen und Heiligenlegenden wird, als erinnerten sie sich beim Leichenschmaus an eine teure Verstorbene, deren leerer Hocker am linken Ende der langen Tafel aus rohem Holz mahnend und tröstlich wartet.
Mit Kitschmusik
Den Schauspielern zuzusehen ist ein Genuss: Alle charakterisieren sie fein ziseliert ihre Figuren, dass es eine helle Freude ist – die Blicke, das Verziehen der Mundwinkel, das Stirnrunzeln, das unruhig auf den Pobacken Herumruckeln, wenn ein anderer eine Anekdote erzählt, begleitet von einer präzisen Lichtregie. Gesang, Geräusche und abrupte, kunstvolle Übergänge in kollektive Szenen, die vom Konkreten, dem Fühlen des Pulses, dem Streicheln, dem Leiden, zur abstrakten Geste des irgendwie Tröstlichen geführt werden, begleitet von ebenso schlichten wie überaus phantasievoll eingesetzten Requisiten, setzen den Kontrapunkt zu den aus Originaltönen zusammengesetzten Berichten.
Trotz der paar zeitgeschichtlichen Einsprengsel ist es kein „lettisches Stück“, das Hermanis da gebaut hat, sondern eins über Sehnsüchte und Mechanismen des – zeitweiligen – Trostes, wozu die Kitschmusik aus dem „Titanic“-Film, mit der die Szenen unterlegt sind, hervorragend passt. Doch auch wenn Kitsch und Gläubigkeit, Banalität und Berechnung zuweilen zum Lachen reizen: Das wirklich Merkwürdige ist, dass keine Pointe, kein Bruch in Sicht sind in diesen 90 Minuten. Bei aller leisen Komik meint Hermanis seine Abendmahlsgesellschaft nicht ironisch, ganz ernst nimmt er sie aber auch nicht. Es bleibt ein Zwischending, aber unterhaltsam, zuweilen berührend und großartig gespielt.