Sozialistischer Realismus mit doppeltem Boden
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Leipziger Gewandhauskapellmeister: Andris Nelsons Bild: Marco Borggreve
Der in Riga geborene Leipziger Gewandhauskapellmeister übernahm das russische Programm unverändert, gab Prokofjews fünfter Sinfonie aber einen doppelten Boden.
Frankfurt ⋅ Auffallend herzlich und sichtlich zugewandt wirkte auf dem Podium der Alten Oper das Verhältnis zwischen den Münchner Philharmonikern und ihrem Gastdirigenten Andris Nelsons. Der 1978 im lettischen Riga geborene Leipziger Gewandhauskapellmeister hatte kurzfristig die Leitung des Frankfurter Konzerts übernommen, nachdem sich die Münchner Philharmoniker von ihrem Chefdirigenten Valery Gergiev getrennt hatten. Wie berichtet, war der Musiker, der dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin nahesteht, der Aufforderung der Stadt München nicht nachgekommen, sich von dem russischen Angriff auf die Ukraine zu distanzieren.
Unverändert blieb das Programm, das Nelsons dirigierte. Mit Sergej Rachmaninows 1909 entstandenem Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30 kombinierte es das populärste Werk des späteren Exilanten mit der Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100, die Sergej Prokofjew gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion schrieb. Dass die Sinfonie klar den Idealen des sozialistischen Realismus folgt, dass sie mit ihrer Tendenz zu großen und hellen Gesten einen deutlich affirmativen Charakter hat, daran ließ die Auslegung durch die enorm präzise spielenden Münchner Philharmoniker keinen Zweifel. Zugleich spürte Nelsons mit ihnen, soweit möglich, aber auch das Doppelbödige auf. Waren die betont spitzen Tiefen von Fagott und Tuba im grotesk-grellen zweiten Satz nicht als sarkastische Einwürfe zu verstehen? Hatte das freudig, „giocoso“, zu spielende Finale nicht eine unausweichliche, beinahe lähmende Zugkraft? Und klang nicht generell das Getöse des opulent besetzten Schlagwerks in seinem pathetischen Lärmen eigentlich bedrohlich?
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