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Johann Sebastian Bach : Uraufführung für rekonstruierte Bach-Passion

Der Cembalist und Dirigent Alexander Grychtolik Bild: Giodo Werner

Rekonstruktion und künstlerisches Experiment: Der Barockexperte Alexander Grychtolik stellt in der Frankfurter Alten Oper ein Passionsoratorium mit Musik Bachs auf einen Text von Picander vor.

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          Schon als Jugendlicher habe er seine eigenen Barockkirchen entworfen, sagt Alexander Grychtolik und verweist auf schmucke Zeichnungen, die heute noch in seiner Wohnung an der Wand hängen. Nun hat der 42 Jahre alte Dirigent, Cembalist und Musikforscher, der Dozent an den Musikhochschulen in Frankfurt und Weimar ist und tatsächlich auch ausgebildeter Architekt, fast Vergleichbares gemacht, indem er ein abendfüllendes Vokalwerk der Barockzeit quasi architektonisch entworfen hat: Sein Passionsoratorium auf eine Textvorlage von Johann Sebastian Bachs wichtigstem Textdichter Christian Friedrich Henrici alias Picander kommt mit ausgewählter Musik Bachs am Samstag, 1. April, in der Reihe der Frankfurter Bachkonzerte in der Alten Oper zur Uraufführung – mit sieben Gesangssolisten, Chor und dem Ensemble Il Gardellino unter Grychtoliks Leitung.

          Guido Holze
          Redakteur in der Rhein-Main-Zeitung.

          Grychtolik hat als Barockexperte schon mehrere Vokalwerke Bachs rekonstruiert, unter anderem eine erst 2009 nachgewiesene Spätfassung der verschollenen Markus-Passion. Vollständig überliefert sind vom Leipziger Thomaskantor lediglich die Matthäus-Passion BWV 244 und die Johannes-Passion BWV 245. Allerdings nennen Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel und sein Schüler Johann Friedrich Agricola 1754, vier Jahre nach Bachs Tod, im Werkverzeichnis ihres Nekrologs „Fünf Paßionen“. Seitdem ist über die drei verlorenen Werke viel geforscht und spekuliert worden.

          Dazu muss man wissen, dass die bloße Anzahl damit für die Zeit erstaunlich gering ist: Bachs fleißiger Zeitgenosse Georg Philipp Telemann schrieb 46 Passionen. Und auch Bach war als Kantor angehalten, für die Sonn- und Festtage eigentlich ständig neue Werke zu komponieren. Ältere Stücke führte man ungern mehrere Male auf.

          Bach stand unter Produktionszwang

          So ist es wahrscheinlich, dass Bach vor allem in seinen ersten Jahren als Thomaskantor durch den Produktionszwang stets auf der Suche nach Textvorlagen war. In Picander fand er in Leipzig einen passenden Dichter und vertonte Texte aus dessen umfangreicher, 1725 frisch erschienener „Sammlung erbaulicher Gedancken“. So gerieten auch darin enthaltene „Erbauliche Gedancken auf den Grünen Donnerstag und Charfreytag über den Leidenden Jesum / In einem Oratorio“ früh ins Visier der Forschung: als ein möglicherweise von Bach vertonter Text, zu dem die Musik verloren gegangen sein könnte.

          Schon Bachs Biograph Philipp Spitta, ein Stammvater der modernen Musikwissenschaft im 19. Jahrhundert, druckte den Text ab. Das Oratorium fand als bloße Textvorlage unter BWV Anh. III 169 sogar Eingang ins Bach-Werke-Verzeichnis, zumal unter anderem der Schlusschor „Wir setzen uns bey deinem Grabe nieder“ nur leicht verändert als „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ Eingang in die Matthäus-Passion fand.

          Parallelen zum Osteroratorium

          Grychtolik ist der Ansicht, dass es sich um „ein aufgegebenes Passionsprojekt des Thomaskantors aus dem Jahre 1725 handeln könnte“. Das Oratorium habe im Unterschied zu den zwei vorhandenen Passionen Bachs nicht wörtlich den Evangelientext als Grundlage, sondern biete in Versform „eine freie dichterische Zusammenfassung“ der Leidensgeschichte Christi, vergleichbar der im Barock vielfach, unter anderem auch von Händel und Telemann vertonten Brockes-Passion.

          Bachs Osteroratorium BWV 249 passe vom Text her mit Picanders Passionsoratorium sehr gut „in einen Topf“, erläutert Grychtolik. So kämen in beiden Fällen Johannes und Petrus zu Wort, und auch die Seele spiele ein besondere Rolle. Für das Osteroratorium vermutet man denn auch ebenfalls Picander als Textdichter. Es würde zu Bachs Arbeitsweise passen, wenn er Leidensgeschichte und Auferstehung zyklisch zusammengedacht hätte.

          Grychtolik fiel nun bei seinem „künstlerischen Experiment“, das durchaus Züge einer wissenschaftlichen Re­kons­truk­tion tragen soll, die schwierige Aufgabe zu, in den rund 200 überlieferten Kantaten Bachs musikalisch geeignete Sätze zu finden und den Gesangslinien die Texte möglichst passend zu den musikrhetorischen Figuren zu unterlegen. Das entspricht dem im Barock üblichen „Parodieverfahren“, einer Art musikalischem Recycling.

          Nur für den Schlusschor und eine Arie konnte sich Grychtolik leicht aus der Matthäus-Passion bedienen. Anderes musste er finden, etwa je drei Arien für die wichtigsten Partien, die Seele, die er einer Altstimme zuwies, und Petrus, der gemäß der Tradition von einem Bass gesungen wird. Die schmucklosen Rezitative komponierte Grychtolik in Bachs Stil neu.

          Die Uraufführung des Passionsoratoriums beginnt in der Alten Oper am Samstag, 1. April, um 20 Uhr.

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