Kunst geht online : „Es gibt kein Entweder-oder“
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Bühnenwirksam: Der Autor Tim Etchells gehört zu den Gründern der Performance-Gruppe Forced Entertainment. Bild: Helmut Fricke
Tim Etchells, der Kopf der Gruppe Forced Entertainment, über Kunst in Krisenzeiten und das Projekt „End Meeting For All“, das jetzt online Premiere hat.
Tim Etchells sitzt vor seiner Wohnung in Sheffield, auf der Terrasse, selbst durch seine Kopfhörer kann man ein paar leise Naturgeräusche hören. Sehr oft hört er zurzeit auch die Sirenen von Rettungswagen. Er hat sie sogar gezeichnet: ein leeres Viereck. Genau wie dasjenige, das die Sorge um Familie und Freunde bedeutet. Und jenes ebenso leere, in dem die Wut über die Inkompetenz und Langsamkeit der britischen Regierung aufgehoben ist. Zu sehen sind die Zeichnungen der Serie „Lockdown“ jetzt auf der Facebook-Seite der Kunsthalle Mainz.
„Es geht uns gut, wie sind gesund, auch unsere Familien. Wir haben Glück: Wir können von zu Hause aus arbeiten, wir sind also privilegiert“, sagt Etchells: „Es ist ein Unterschied, ob du mitten in der Geschichte drin bist oder am Rand. Wir sind weder krank noch Arzt oder Lebensmittelverkäufer.“ Die Kontraste seien intensiv, in dieser Krisenzeit, eine Mischung aus Sorge, dem Versuch, die Zukunft zu planen und die Informationen zu verstehen. „Hier in Großbritannien ist die Lage schrecklich“, klagt er.
Wohnzimmerkunst
Eigentlich hätte Etchells, Jahrgang 1962, Autor, Regisseur, künstlerischer Leiter der britischen Performance-Gruppe Forced Entertainment, jetzt mit seinen Kollegen in Deutschland sein sollen. „Under Bright Light“ heißt die Koproduktion, die Pact Zollverein Essen, Hebbel am Ufer Berlin und der Frankfurter Mousonturm mit einer Uraufführungstour gezeigt hätten. Nun ist das Projekt auf 2021 verschoben. Stattdessen haben die drei Häuser ein neues Werk koproduziert: Ein dreiteiliges Video-Stück. „End Meeting For All“ ist mit der Anmutung eines Live-Events nur an den nächsten drei Dienstagen jeweils von 21 Uhr an auf den Websites der beteiligten Theater zu sehen. Kurze Abende, angeregt von den Erfahrungen, die das Sechserkollektiv Forced Entertainment selbst mit Videokonferenzen in der Corona-Krise gemacht hat.
„Ich bin glücklich, dass wir so anfangen können, zu untersuchen, wo die Möglichkeiten einer solchen Performance mit Split-Screen liegen, wie interessant die Form sein kann“, sagt Etchells. Während andere Performer schon vor Wochen Videoaufzeichnungen ins Internet gestellt haben oder spontane Wohnzimmerkunst produzierten, hätten die Künstler von Forced Entertainment Zeit gebraucht. Nun sei man über den ersten Schock hinweg.
Performance-Geschichte
Forced Entertainment, 2016 mit dem internationalen Ibsen-Preis ausgezeichnet, bekommt eine staatliche Grundförderung. Dennoch kämpfe die Gruppe und betreibe Lobbyarbeit, sagt Etchells, denn die Lage der freischaffenden Künstler sei desaströs. Diejenigen, mit denen die Gruppe arbeite, unterstütze man. Auch Forced Entertainment aber kalkuliert mit den internationalen Tourneen, die nun alle gestrichen sind.
„Wir haben erst mal sehen müssen, wie wir die Company hinbekommen. Dann haben wir nachgedacht, was wir tun könnten. Wir haben am 5. März aufgehört, am neuen Stück zu arbeiten, es war uns klar, dass wir im April nicht nach Deutschland kommen würden. Die Leute sind heimgefahren.“ Aus den anschließenden Online-Meetings sei die Idee entstanden, daraus etwas zu machen: Schließlich seien die geteilten Bildschirme eine Art Bühne, ein „seltsamer Raum“.
Eine Idee, die wohl nirgendwo besser aufgehoben sein könnte als bei Forced Entertainment. Die Gruppe – Etchells, Robin Arthur, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O’Connor –, die seit Studienzeiten miteinander arbeitet, befasst sich mit dem Menschsein in der komplexen, modernen Welt. Damit schreibt sie seit 1984 nichts weniger als Performance-Geschichte.