Mainz ⋅ Piacere, die allegorische Figur des Vergnügens, bietet eine der eingängigsten Melodien auf, die Georg Friedrich Händel je komponiert hat. Aber sogar „Lascia la spina“, jene Arie, die in der weit später entstandenen Oper „Rinaldo“ mit abgewandeltem Text zu einem der bekanntesten Händel-Hits avancieren sollte, kann Bellezza, die Schönheit, nicht mehr umstimmen: Sie wendet sich vom Vergnügen ab. Tempo, die Zeit, und Disinganno, die Ernüchterung, haben die Schönheit auf ihre Seite gezogen und gesiegt.
Diese vier allegorischen Figuren bilden die vokale Besetzung von Händels frühem Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, das 1707 während des päpstlichen Opernverbots in Rom uraufgeführt wurde und sich somit als Händels erste dramatische Komposition im oratorischen Gewand verstehen lässt.
Das Staatstheater Mainz zeigt diesen „Triumph der Zeit und der Enttäuschung“ nun szenisch an einem Ort, der als designierter Museumsraum ein reizvolles Verhältnis zum Zeitlichen aufweist. Im neuen Leibniz-Zentrum für Archäologie, nahe dem Römischen Theater am Rand der Mainzer Altstadt gelegen, hat Carlos Wagner das Oratorium in einem geometrisch klaren, zum Obergeschoss lichtvoll durchbrochenen Raum inszeniert. Bühnenbilder Christophe Ouvrard lässt durch die Öffnung permanent Sand auf die Bühne rieseln, eine Dreiecksfläche, an deren beiden kurzen Seiten das Publikum von Tribünen aus die Szene verfolgt. Der über die Längsseite des Dreiecks reichende Spiegel bildet nicht immer die Wirklichkeit ab. Die Schönheit, die sich dort zuerst selbst bewundert, wird gegen Ende des knapp zweieinhalb Stunden langen Abends an gleicher Stelle einer alten Frau ins Gesicht blicken.
Weit aufgefächerte Bewegungssprache
Regisseur Wagner lässt die vier allegorischen Figuren ihre Konflikte ziemlich körperlich, mitunter handfest austragen. Dabei schlurft Tempo, die Zeit, schwarz geflügelt und auf viel zu langen Hosenbeinen gemessen durch die Szene (Kostüme: Angelo Alberto), während sich Piacere, das Vergnügen, nicht nur mit der giftigen Schönheit violetter Glyzinien geschmückt, sondern auch um eine Gruppe höchst menschlicher Statisten verstärkt hat, ein Kinder- und ein junges Erwachsenenpaar sowie eine Frau (Heide-Marie Böhm-Schmitz), deren expressive Altersschönheit die Vorstellung von der Vergänglichkeit des Schönen Lügen straft. Überhaupt ergreift Regisseur Wagner ziemlich klar Partei für das Menschliche des Vergnügens – und für das Vergnügen des Menschlichen. Allein, es nutzt nichts: Als am Ende Zeit und Ernüchterung die Schönheit vom Vergnügen absorbiert haben, wird die Statistengruppe zur Spießerfamilie, trägt Aktenkoffer und Hosenanzug, brütet lustlos über Schulaufgaben, ohne die letzten Versuchen des Vergnügens, sie anzustecken, auch nur wahrzunehmen.
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