Inklusion in Hessen : „Eltern rennen uns die Bude ein“
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Gemeinsam lernen: In der Padua-Grundschule in Fulda hat jedes dritte Kind einen zusätzlichen Förderbedarf. Bild: dpa
Gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung – an der mit einem Preis ausgezeichneten Padua-Schule in Fulda gelingt das herausragend. In ganz Hessen läuft es mit der Inklusion allerdings eher nicht so gut.
Wer die Antonius-von-Padua-Schule in Fulda betritt, bemerkt schnell: Es ist keine Grundschule wie jede andere. Schon die Architektur der hellen, ineinander übergehenden Räume wirkt ungewöhnlich offen, ist barrierefrei. Die Klassenzimmer, wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann, haben keine Türen. Eine feste Sitzordnung gibt es nicht. Die Schüler tummeln sich altersübergreifend an Tischen und Stühlen, die wie Lerninseln erscheinen. Die Schüler dürfen auch auf dem Teppich liegen beim Lesen, Schreiben und Rechnen, wenn ihnen danach zumute ist. Trotz des bunten Treibens hält sich die Geräuschkulisse in Grenzen.
Auffällig ist der große Anteil an Schülern mit Behinderungen. Jedes dritte der rund 60 Kinder bringt ein Handicap mit und hat einen besonderen Förderbedarf. In der Padua-Schule wird Inklusion großgeschrieben – also das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern. Festgeschrieben ist das Recht auf Inklusion in einer UN-Behindertenrechtskonvention. Auch in Hessen ist Inklusion eine der größten Zukunftsaufgaben im Bildungswesen.
Die Padua-Schule wurde für ihr außergewöhnliches Konzept und die Erfolge bei der Inklusion vor wenigen Monaten mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet. Es gab 3000 Euro an Preisgeld und viel Beachtung im Bildungs- und Sozialwesen. Mit der Auszeichnung ehrt die Bertelsmann-Stiftung zusammen mit der Bundesregierung und der Deutschen Unesco-Kommission seit dem Jahr 2009 Schulen für ihr besonderes Engagement in Sachen Inklusion.
„Der Preis ist bedeutungsvoll und zeigt, dass die Idee funktioniert. Er ist auch ein Beleg für die Eltern, dass wir hier einiges richtig machen“, sagt Rektor Hanno Henkel, der einen angenehmen Nebeneffekt beobachtet: „Wir haben eine riesige Nachfrage nach Plätzen. Die Eltern rennen uns die Bude ein.“
Normalerweise haben die Regelschulen nur einige wenige behinderte Kinder und Jugendliche in den Klassen. Behinderte Schüler werden oft als Zusatzbelastung betrachtet, mit der man umzugehen lernen muss. In der Padua-Schule ist der hohe Anteil jedoch bewusst groß. „Wir wollten die Gruppe der behinderten Schüler pro Jahrgang so groß machen, dass sie nicht mehr ignorierbar ist“, erklärt Henkel. Behinderte und Nichtbehinderte würden dadurch gleichberechtigter.
Ein Merkmal des Konzepts der Padua-Schule ist es Henkel zufolge auch, „das Prinzip der Gleichzeitigkeit“ aufzugeben. „Jedes Kind lernt in seiner Geschwindigkeit und auf seinem Leistungsniveau. Wir müssen nur den Rahmen geben, damit die Kinder tun, was sie immer tun: lernen – ganz natürlich, ohne Zwang und ständigen Antrieb“, sagt der Rektor. Schule bestehe nicht aus Druck, Kontrolle und omnipräsentem Leistungs- und Vergleichsdenken, hebt er hervor. Feste Termine für Klassenarbeiten gibt es nicht. Jedes Kind meldet sich selbständig und eigenverantwortlich zu Prüfungen im Unterricht.
Im Kontrast zu der erfolgreichen Fuldaer Schule ist Hessen im bundesweiten Inklusions-Vergleich quasi das Schlusslicht. In keinem anderen deutschen Bundesland werden so wenige Schüler mit und ohne Handicap gemeinsam unterrichtet. Das geht aus einer im Juli veröffentlichten Studie hervor. Demnach besuchte im vorigen Schuljahr nur gut jedes vierte Kind mit Förderbedarf eine Regelschule in Hessen. Im Bundesdurchschnitt lag die Quote bei rund 41 Prozent, Spitzenreiter Bremen erreichte knapp 90 Prozent.
Hessens Kultusministerium reagierte auf diese Zahlen mit dem Hinweis, erfolgreiche Inklusion messe sich nicht an Quoten. Man setze bei Kindern mit festgestelltem Förderbedarf auf die Wahlfreiheit der Eltern. Sie könnten je nach Bedarf an ihrem Wohnort zwischen dem Angebot von Förderschulen und inklusivem Unterricht an einer Regelschule wählen.
Zudem stocke Hessen angesichts steigender Zahlen von Schülern mit besonderem Förderbedarf die Lehrerstellen auf: Vom Schuljahr 2017/2018 an seien mehr als 4400 Stellen in der Sonderpädagogik geplant – und damit rund 120 mehr als zuletzt, hieß es seinerzeit.
Die freie, aber staatlich anerkannte Padua-Schule kann sich ihre Lehrer selbst aussuchen. Für die 60 Grundschüler sind es aktuell sechs Lehrkräfte: vier Grundschul- und zwei Förderschullehrer. Die passenden Pädagogen zu finden, sei besonders wichtig, hebt Henkel hervor. „Denn der Faktor, der Schule gelingen lässt, ist der Lehrer.“
Seiner Meinung nach ist eines der größten Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Inklusion an deutschen Schulen die „extrem schlechte Finanzierung“. Dabei sei das Modell nicht teurer als an Regelschulen. „Und volkswirtschaftlich wird es sich am Ende auch rechnen, weil wir nicht zwei Schulsysteme – für Regel- und Förderschüler – haben.“
Bei der Finanzierung ihres Neubaus hatte die Padua-Schule Glück, beziehungsweise wohlhabende Gönner. Der im hessischen Biebergemünd ansässige Bekleidungshersteller Engelbert Strauss sponserte das Vorhaben komplett und gab 3,8 Millionen Euro. Das Gebäude macht seither einen hochmodernen Eindruck, die Schule an sich ist aber schon recht alt. Die Förderschule existiert Henkel zufolge seit 1904 und ist damit eine der ältesten in Hessen. Träger ist das Antonius Netzwerk Mensch. Es bietet in Fulda 300 Menschen eine Heimat in unterschiedlichen Wohnformen und rund 1000 Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen.
Obwohl in der Padua-Schule Inklusion allgegenwärtig ist, spricht niemand darüber. „Inklusion haben wir dann erreicht, wenn keiner mehr darüber redet“, sagt der Rektor.