Inklusion : Ein „Schwarzbuch“ zur Landtagswahl
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Gemeinsam lernen: Inklusion ist nicht nur in Hessen ein vieldiskutiertes Thema. Bild: dpa
Eine Wissenschaftlerin kritisiert den Stand der Inklusion an Hessens Schulen. Sie will die Debatte zu einem Wahlkampfthema machen.
Die Inklusion soll in Hessen zu einem Wahlkampfthema werden. Das zumindest beabsichtigt der Verein „Politik gegen Aussonderung - Koalition für Integration und Inklusion“, der am Dienstag in Darmstadt ankündigte, rechtzeitig vor der Landtagswahl in einem „Schwarzbuch“ festzuhalten, wie sehr die UN-Behindertenrechtskonvention befolgt wurde, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Vorsitzende des Vereins ist die Professorin Anne-Dore Stein, die am Studiengang Integrative Heilpädagogik/Inclusive Education der Evangelischen Hochschule Darmstadt lehrt.
Stein und ihre Vorstandskollegin Irmtraud Schnell vom Institut Sonderpädagogik der Goethe-Universität in Frankfurt übten am Dienstag deutliche Kritik am Stand der Integration behinderter Schüler: „So, wie die Konvention gemeint ist, wird sie in großen Teilen Hessens nicht umgesetzt.“ Dem Verein gehören vornehmlich Wissenschaftler und Studenten an, die sich beruflich mit dem Thema Integration und Inklusion beschäftigen. Er arbeitet bundesweit und zog jetzt aus Anlass des Jahrestags der Konventionsratifizierung eine erste Bilanz der „hessischen Realität der Inklusion in Schulen“.
„Kein Plan“
Diese Bilanz basiert auf zahlreichen Beispielen und Erfahrungen von Eltern, die in der Summe nach Ansicht von Stein und Schnell den Eindruck bestätigen, „dass kein Plan vorhanden ist, wie die UN-Konvention umgesetzt werden soll“. Weder gebe es in Hessen Zeit- noch Zielvorgaben oder gar eine Evaluation der Integrationsversuche an Regelschulen. Dadurch entstehe auf allen Ebenen Unsicherheit, von den Eltern über die Schulen und Lehrer bis zu den Schulämtern. Folge sei nicht nur, dass der Zugang zum inklusiven Unterricht, also dem gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, nach wie vor außerordentlich erschwert werde. Es komme auch zu einem Missbrauch des Inklusionsgedankens für „Sparzwecke“, zu Konkurrenzsituationen zwischen Förderschulen und Regelschulen und zu einer Missachtung elterlicher Rechte.
Als Beispiel führte Stein eine Familie an, die für ihr autistisches Kind einen Platz an einer Grundschule gesucht hatte. Nach drei ablehnenden Bescheiden hätten die Eltern ihr Recht eingeklagt, an der aufnehmenden Grundschule aber einen Vertrag unterzeichnen und zusagen müssen, ihr Kind nur zum Unterricht zu schicken, wenn auch jene Assistentin anwesend sei, die als Lernhilfe vom Landkreis finanziert werde. Als Beispiel für Konflikte, die der Mangel an klaren schulpolitischen Vorhaben in den Beratungs- und Förderzentrums bewirkt, schilderte der Verein einen Fall, wo eine Grundschule bereit war, ein hörgeschädigtes Kind aufzunehmen. Das Lehrerkollegium blieb bei seiner Entscheidung auch dann, als der Förderausschuss mitgeteilt hatte, es gebe keine Kapazitäten für zusätzliche Lehrerstunden. Daraufhin habe das Förderzentrum bei den Eltern nachgefragt, ob sie trotzdem den Grundschulplatz annehmen wollten, und diese so verunsichert, dass sie ihr Kind wieder abgemeldet hätten.
Fehlende wissenschaftliche Begleitforschung
Für den Verein stellen dies keine Einzelfälle dar, sondern sind Ausdruck einer „unsystematischen und mangelhaften Zuweisung von Ressourcen“, die zu Konkurrenzsituationen zwischen Regel- und Förderschulen führe. Vermutlich seien fehlende Richtlinien auch mitverantwortlich für die an Regelschulen zu beobachtende Tendenz, Kindern schon bei leichten „Normabweichungen“ sonderpädagogischen Förderbedarf zu attestieren, um zusätzliche Stellen zu erhalten. Dass es in Hessen einen solchen Trend gibt, bestätigt auch einer aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung. Danach ist der Anteil der Förderschüler, die eine reguläre Schule besuchen, in den vergangenen vier Jahren in Hessen von elf auf 17,3 Prozent gestiegen. Damit liegt der Studie zufolge Hessen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 25 Prozent, gehört allerdings zu den fünf Bundesländern mit der höchsten Steigerungsrate beim „Inklusionsanteil“.
Zu den Mängeln hessischer Schulpolitik rechnet der Verein ebenfalls die fehlende wissenschaftliche Begleitforschung. Welche Strategien geeignet seien, sei bislang nirgends untersucht worden. Vor diesem Hintergrund habe sich Brandenburg entschieden, den Prozess langsam anzugehen und zunächst an 100 Schulen des Landes den inklusiven Unterricht zu erproben und erst nach Auswertung der gemachten Erfahrungen diesen flächendeckend einzuführen, sagte Schnell. In Hessen dagegen gebe es weder einen wissenschaftlichen Beirat noch einen Runden Tisch, sondern nur ein „Inklusionsbüro“ ohne Geld und erfahrene Mitarbeiter. Am 5. September, also zwei Wochen vor der Landtagswahl, soll dann eine Podiumsdiskussion über „Inklusion in Hessen“ mit Vertretern der Parteien stattfinden.