Hessen : Justiz tut sich schwer mit rechtsextremer Gewalt
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Im November 2009 gab es die ersten Hinweise. Damals warfen Unbekannte eine mit Farbe gefüllte Christbaumkugel gegen das Haus eines Pastoralreferenten in Wetzlar. Zwei Monate später folgte eine ähnliche Attacke, begleitet von der Parole „Grüße vom Nationalen Widerstand“. Und wiederum zwei Monate später, am 5. März 2010, geschah das, was die Stadt Wetzlar, aber auch die Sicherheitsbehörden nachhaltig erschütterte: Diesmal warfen vier Neonazis keine Farbbeutel, sondern einen Molotow-Cocktail, der Teile des Hauses in Brand setzte, in dem Frau und Kinder des Kirchenmitarbeiters schliefen. Ein Nachbar entdeckte das Feuer, es konnte rasch gelöscht werden.
Das Attentat zeigte einmal mehr, wie groß das Gewaltpotential rechtsextremistischer Gruppen auch in Hessen ist. Am 20. Juli 2008 überfielen Neonazis ein Jugendcamp der Linkspartei am Neuenhainer See in Nordhessen. Ein Neunzehnjähriger, der den „Freien Kräften Schwalm-Eder“ angehörte, schlug mit einem Klappspaten und einer Bierflasche auf ein 13 Jahre altes Mädchen und deren zehn Jahre älteren Halbbruder ein. Dabei verletzte er die Schülerin schwer am Kopf.
Die Justiz steht bei Taten aus womöglich rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Motiven seit Jahren vor der Frage, ob sie den Exzess Einzelner beurteilen oder den Anfängen einer allgemeinen Gefahr abwehren muss.
Statistisch betrachtet scheint die Szene „stabil“, sie galt all die Jahre als überschaubar und beherrschbar. Laut der Statistik des hessischen Justizministeriums wurden im vergangenen Jahr 1166 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts rechtsextremistischen oder fremdenfeindlichen Hintergrunds eingeleitet. Der überwiegende Teil entfiel auf die Tatbestände Verbreitung von Propagandamitteln und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisation und Volksverhetzung.
Kurz gefasst ging es ganz überwiegend um rassistische Schmierereien und Hetzschriften. Nur 24 Mal wurde in diesem Zusammenhang wegen Körperverletzungsdelikten ermittelt. Dieses Verhältnis ist in den vergangenen zehn Jahren in etwa gleich geblieben, die Gesamtzahl der verfolgten Taten lag 2006 noch deutlich höher (1712).
Vor Gericht adrett gewandet
Die Register der Sicherheitsbehörden und der Justiz sagen allerdings wenig darüber aus, wie bedrohlich Rechtsextreme und ihre Gefolgsleute im Alltag auftreten. Ihre „Besuche“ auf Volksfesten, Kirmes-Veranstaltungen oder Abi-Feten sind gefürchtet. Kaum noch ein Organisator solcher Ereignisse riskiert es, auf einen Wachdienst zu verzichten.
In den wenigsten Fällen werden von solchen Kohorten angezettelte Schlägereien jedoch als Übergriffe von Neonazis aktenkundig, zumal sich diese gerne bei solchen Gelegenheiten unter die gewöhnlichen üblichen Bierzeltschläger mischen. Das Vorgehen ähnelt jenem von Hooligans im Fußball, die sich zunächst hinter harmloseren Fans verbergen.
Für die Justiz erscheinen oft selbst gravierende Taten aus diesem Milieu zunächst einmal als singulär, zumal oft Alkohol eine Rolle spielt und die Täter vor Gericht adrett gewandet als noch nicht gereifte Persönlichkeiten erscheinen.
„Wir sind doch alle Sozialisten“
Das gilt in gewisser Weise selbst für eine Schreckenstat wie der Überfall auf das Jugendcamp der Links-Partei. Angeblich aus dem Schreck darüber, wie jung sein Opfer war, legte der bekennende Rechtsradikale bei der Polizei ein Geständnis ab. Im Prozess vor dem Kasseler Landgericht entschuldigte er sich bei den Opfern mit der erstaunlichen Bemerkung „Wir sind doch alle Sozialisten“.