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Kultur in der Corona-Krise : Meistersinger versus Arbeitsrecht

  • -Aktualisiert am

Freund der Sänger: Turgay Schmidt, Opernfan und Jurist, netzwerkt für freie Künstler. Bild: Marcus Kaufhold

Auch berühmte Sänger trifft die Corona-Krise hart. Der Gießener Anwalt Turgay Schmidt setzt sich für Künstler ein – und fordert neue Regeln.

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          Natürlich ist Turgay Schmidt nach Wiesbaden gefahren. Für einen passionierten Opernfreund und Sänger-Fan wie ihn musste dieser Abend am Staatstheater einfach sein: „Der fliegende Holländer“ und „Arabella“, in Ausschnitten gesungen von Michael Volle und Gabriela Scherer. Den international gefragten Bariton Volle kennt Schmidt schon lange. Schließlich fährt der Gießener Rechtsanwalt für seine Leidenschaft lange Strecken, um Opern, vor allem Wagner-Opern, mit den Besten ihres Fachs zu hören.

          Schmidt hat das Musikerlebnis vermisst – für freischaffende Künstler wiederum sind die Beschränkungen durch die Corona-Pandemie geradezu ein Auftrittsverbot. Die geschlossenen Theater und Opernhäuser bedeuten für die meisten Freischaffenden einen Einkommensverlust von 100 Prozent. Schmidt verbindet seit langem Beruf und Leidenschaft, jetzt bricht er eine Lanze für die selbständigen Opernsänger, stellvertretend auch für Künstler anderer Branchen. Er befasst sich mit Missständen in den Anstellungsverträgen freier Künstler und plädiert für eine faire Lösung, mit der alle Beteiligten leben können. Gerichtliche Auseinandersetzungen aber, wie sie manche Künstler nun schon erwägen, hält er für den falschen Weg.

          Schmidt, der neben seinem juristischen Studium auch eine klassische Gesangsausbildung genossen hat, ist ein Kenner der Opernszene und steht in engem Kontakt mit etlichen namhaften Sängern. Den aktuellen Umgang mit den Künstlern, die vor wenigen Wochen noch als Publikumsmagneten Garanten für ausverkaufte Vorstellungen waren, hält er für unangemessen und bedenklich. Denn in den Verträgen tragen die Künstler in der Regel einseitig das Ausfallrisiko von Veranstaltungen.

          Unsicherheit für Künstler

          Zwar koche jedes Theater sein eigenes Süppchen und schließe individuell gestaltete Verträge ab. Der rote Faden aber sei: Sowohl die Leistungspflicht als auch das Ausfallrisiko müssen die Künstler schultern. In einigen Fällen behält sich das Opernhaus das Recht vor, eine Aufführung 24 Stunden vorher abzusagen. Die Folge für den Sänger: Totalverlust der Gage. Dieselbe Konsequenz entsteht bei Absage des Künstlers, beispielsweise wegen Krankheit, Verspätung, Flugausfall oder kurzfristiger Indisponiertheit. Das Einstudieren der Partie und Rolle, szenische und musikalische Proben, Änderungen, Abweichungen, Anwesenheitspflichten und Urlaubsverbote werden nicht oder nur marginal erfasst. Das Honorar wird erst nach der Premiere und Folgeaufführungen fällig.

          Sämtliche Verträge enthalten dagegen eine Klausel, in der die Freischaffenden auf alle Verwertungs- und Vermarktungsrechte für ihre künstlerischen Leistungen in Zukunft verzichten. Eine finanzielle Entschädigung oder Beteiligung bei der nachträglichen Verwertung, wie dem derzeit häufigen Streaming alter Produktionen im Internet, ist nicht vorgesehen.

          Vergütung nicht überall gleich

          In einem Fall bot ein renommiertes deutsches Opernhaus dem betroffenen Sänger für den coronabedingten Ausfall zwar eine Vergütung an – allerdings nur in Höhe von 300 Euro. Ein paar Theater zahlten die vereinbarten Gagen trotz Lockdowns komplett aus, andere haben Teile erstattet.

          Viele Verträge freischaffender Künstler aber weisen nach Ansicht Schmidts Kriterien eines Arbeitsverhältnisses auf. Dort fänden sich Bezeichnungen wie „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“, dazu unter anderem klare zeitliche und inhaltliche Vorgaben, auch die Abrechnung von Sozial-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung sowie der Steuern durch den Veranstalter. Würde man sie als befristete Arbeitsverträge einordnen, wäre die Berufung auf „höhere Gewalt“ für diesen Zeitraum ausgeschlossen. In dieser Variante würde das Ausfallrisiko einer Aufführung beim Arbeitgeber, den Opernhäusern und Theatern, liegen, führt Schmidt aus.

          „Die Krise hat unerwartet und gnadenlos zugeschlagen“, schildert auch Starbariton Michael Volle, der heute Abend noch einmal am Staatstheater Wiesbaden Wagner und Strauss singt, seine persönliche Erfahrung. „Von jetzt auf gleich waren Soloselbständige wie ich erwerbslos. Da rächt sich, dass wir keine Lobby haben und nicht organisiert sind. Das muss sich ändern.“ Einheitliche Regelungen seien dringend nötig. „Wir wollen keine Extrawurst, sondern nur eine gerechte Behandlung“, ergänzt er.

          Elf Wochen Zwangspause: Michael Volle singt in Wiesbaden.
          Elf Wochen Zwangspause: Michael Volle singt in Wiesbaden. : Bild: action press

          Der Mittwoch am Wiesbadener Staatstheater war Volles erstes Konzert nach elfwöchiger Zwangspause. „Ein erhebendes Gefühl“, wie er sagt. Auch die Freude des Publikums sei greifbar gewesen. „Aufgrund der Corona-Beschränkungen durften jedoch nur 189 der 1041 Plätze besetzt werden“, bedauert der Sänger. „Das ist zwar für den Augenblick wunderbar, kann aber nicht die Zukunft sein.“

          Das Argument, die Theater und Opernhäuser seien selbst in einer wirtschaftlichen Notlage, ist für Schmidt nicht stichhaltig. In der Schließung seien die wirtschaftlichen Betriebsausgaben wie Technik, Energiekosten und anderes auf ein Minimum gesunken. Außerdem fielen an vielen Bühnen die Personalkosten der Festangestellten durch Kurzarbeit für bis zu zwölf Monate weg. Der Hinweis der Häuser auf mangelnde Liquidität greife ebenfalls nicht, meint Schmidt. Kartenrückgaben würden durch Gutscheine abgewickelt, womit die Liquidität erhalten bleibe. Zudem mache der Kartenverkauf in einer Spielzeit ohnehin lediglich einen Anteil von 15 bis 20 Prozent am Gesamtetat der Häuser aus. Hilfsprogramme oder Subventionen, um die Lage der Freischaffenden zu verbessern, werden nicht benötigt, findet Schmidt: Der Etat der Häuser für die Spielzeit 2019/20 sei ja schon vorhanden – und damit auch die darin enthaltenen Kosten für die Gagenansprüche der Künstler.

          Festanstellung reduziert

          „Freischaffend zu arbeiten ist nicht unbedingt eine freie Entscheidung“, sagt Schmidt. In den vergangenen Jahrzehnten seien die Ensemblegrößen an den Opernhäusern permanent reduziert worden. Parallel dazu sei das Bedürfnis gewachsen, herausragende Gastkünstler zu engagieren. Angesichts dieses Trends wäre es, so Schmidt, sinnvoll, die Freischaffenden als das zu begreifen und zu behandeln, was sie de facto seien: fest eingebundener Bestandteil in den personellen und strukturellen Apparat des jeweiligen Hauses. In der aktuellen Situation plädiert Schmidt, der auf Arbeits- und Vertragsrecht spezialisiert ist, für eine bundesweite Einigung auf eine Auszahlung von 60 bis 87 Prozent der vereinbarten Gagen an die Freischaffenden. Das würde den Regelungen für das Kurzarbeitergeld entsprechen.

          Alle bisherigen Versuche, mit Petitionen, etwa des bekannten Sängers Jonas Kaufmann, mit Verhandlungen und anderen Aktionen etwas zu ändern, blieben nach Darstellung Schmidts wirkungslos oder führten bislang zu unbefriedigenden Angeboten. In der Konsequenz hat das dazu geführt, dass zahlreiche Künstler gezwungen waren, Hartz IV zu beantragen.

          Schmidt plädiert für ein Zusammenwirken aller Beteiligten – Häuser, Agenturen, Künstler und Politik. Was es seiner Ansicht nach braucht: einheitliche Verträge und Mindeststandards. Warum nicht gleich für ganz Europa? Die Problematik sei ja nicht auf Deutschland oder den deutschsprachigen Raum begrenzt. Schmidt, der Wagner-Fan, hat dafür natürlich das passende Zitat parat: „Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst“, singt Hans Sachs in den „Meistersingern von Nürnberg“. Michael Volle hätte diese Rolle jetzt wieder in Bayreuth singen sollen.

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