„Freestyle“-Projekt in Kassel : „Überall herrscht Krieg“
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Zuwendung ist wichtig
Er will Vorbild sein für die Kinder und Jugendlichen, ihr Freund und väterlicher Begleiter. Diese Straßenkinder seien zu problematisch für einen Verein. Aber sie könnten sich schließlich auch nicht „wegradieren“. In der Halle lernen sie Disziplin, Achtung vor dem anderen, Zuverlässigkeit und Verantwortung zu übernehmen. Es beginnt mit der Begrüßung. Kinder und Jugendliche, die ein Leben lang unter sich schauten, ihre Augen hinter Mützen verbargen, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten, sollen lernen, den anderen anzusehen, ihm die Hand zu reichen und zu fragen, wie es dem Gegenüber gehe. Der andere revanchiert sich mit Fragen: „Wie war die Schule? Klappt es mit dem Führerschein?“ Kinder und Jugendliche, an deren Entwicklung bisher niemand erkennbar Anteil nahm, richten sich unter der Zuwendung mit Worten förmlich auf, lernen, wie es Eko sagt, über ihre Probleme und mithin über ihre Schwächen zu sprechen. Für Gabkovic ist „die Kommunikation das A und O. Die kommen nach acht Jahren zurück und sagen Danke. Es ist ein Kreislauf. Alles kommt zurück, das Gute und das Schlechte.“
Alexandro Popescu trifft immer wieder auf junge Menschen, die ihm berichten, wie ihnen Gakovic, den sie Eno nennen, einst geholfen habe. Popescus Familie stammt aus Rumänien. Als Kind kam er nach Göttingen, wo er erfuhr, was es heißt, nicht akzeptiert zu werden. Als er 15 und 16 Jahre alt war, wurde er von den Ausländern gejagt, die in ihm den Deutschen sahen, „und an der nächsten Straßenecke warteten die anderen“. Denn für die Deutschen war er ein Ausländer. „Wenn Kinder mit vier bis sechs Jahren Gewalt erleben, dann weiß man, wie sie mit sechzehn oder siebzehn sein werden“, sagt Popescu, der selbst hat einstecken müssen, aber auch gelernt hat auszuteilen. Als er nach der zehnten Klasse im niedersächsischen Schulsystem endlich zum Gymnasium gehen durfte, wurde es besser. Zum Studium der Mechatronik ging er nach Kassel. Dort schenkt er seine Zeit und seine Zuneigung den Vernachlässigten. Der Student gibt Nachhilfe in Mathematik, ist Trainer in der Freestyle-Halle, spielt aber auch einmal Verstecken. Ausgerechnet jene Jugendlichen mit dem übelsten Strafregister wollten dies: „Nach außen geben sie sich stark, aber in ihrem Inneren sind sie Kinder.“
Aus der Freizeitbeschäftigung wurde ein Beruf
Ein Leidtragender multikultureller Erfahrungen ist auch Karsten Onderka. Darum ist es wohl kein Zufall, dass auch er sich dem Freestyle-Projekt verschrieben hat. Onderka wurde 1970 in Bonn geboren. Sein Vater ist Bauingenieur und bereiste die halbe Welt. Die Familie zog mit. Der Junge wuchs in São Paulo auf und kam über eine Station in Nordamerika mit zehn Jahren nach Deutschland zurück. Er konnte zwar deutsch, aber die Sprache, in der er dachte und fühlte, war Portugiesisch. Er blieb in der Schule sitzen, ging von zu Hause weg, verdiente sein eigenes Geld, unternahm weite Reisen, lernte den Beruf des Speditionskaufmanns, holte das Abitur nach, absolvierte ein Studium in Internationaler Betriebswirtschaft, schrieb seine Diplomarbeit bei Mercedes in São Paulo, arbeitete als Projektmanager, in der Seeschifffahrt und baute Photovoltaikparks.
Der Liebe wegen kam er nach Kassel und der Liebe zum Fußball wegen zu „Dynamo Windrad“, einer munteren linken Gruppe, die vor 30 Jahren von Sport- und Kunststudenten in Kassel gegründet wurde und in der Szene von Sport und Politik durchaus national und international ein Begriff ist. Über den politisch ambitionierten Sportverein fand Onderka zu Freestyle. „Dynamo Windrad“ hatte sich des Projekts angenommen, das wiederum über das Programm „Soziale Stadt“ vom Bund und der EU finanziert wurde. Aus der Freizeitbeschäftigung wurde für Onderka ein Beruf. Er ist ein Manager, der nicht ruhen kann, einerlei ob er Ozeanriesen dirigiert, Photovoltaikmodule in China ordert oder sich in Fragen eines Sozialfonds hineinfuchst.