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Alles, außer gewöhnlich : Warum wir so unbedingt individuell sein wollen

Die Skyline fasziniert viele Besucher. Um sie für ein Foto für sich allein zu haben, muss man Geduld haben. Bild: Frank Rumpenhorst

Ferienzeit. Egal ob unterwegs oder zuhause als Gastgeber: Man will nicht bekannte Touristen-Attraktionen besuchen oder zeigen. Es soll einzigartig, abseits ausgetretener Pfade sein. Warum uns das wichtig ist.

          3 Min.

          Die Kategorie „off the beaten track“ hat Konjunktur. Gemeint sind Geheimtipps, Ideen abseits des Mainstreams. Diese eine Badestelle am Rhein, die schnuckelige Kneipe. Das gilt für die Abendgestaltung in der Heimatstadt ebenso wie für Urlaubsreisen in die Ferne. Dass Individualität da hoch im Kurs steht, spiegelt sich auch in den Buchungen von Touristen wider: Der Deutsche Reiseverband hat für das vergangene Jahr festgestellt, dass nur noch jede dritte Reise pauschal gebucht wird. Und wenn Gäste kommen? Dann will man denen ja erst recht was bieten. Alles, außer gewöhnlich. Woher kommt dieser Wunsch? Zeit für eine Gegenwartsanalyse.

          Theresa Weiß
          Redakteurin in der Rhein-Main-Zeitung.

          Forscher beobachten seit Jahren, dass der Individualismus in unserer Gesellschaft steigt. Das lesen sie zum Beispiel an steigenden Scheidungsraten ab. Da liegt Frankfurt mit 56 Prozent übrigens bundesweit auf dem zehnten Platz, was den Anteil der geschiedenen Ehen angeht. Als weiteres Indiz wird oft die Namensgebung für Kinder herangezogen. Je ausgefallener, desto individueller. Für Frankfurt muss man an dieser Stelle wohl Konzessionen machen: Seit 22 Jahren sind die beliebtesten Namen für Mädchen Marie und Sophie, für Jungs hat sich immerhin Maximilian unter den Top 2 gehalten. Das sind jetzt wirklich keine Ausnahmenamen.

          „Die Pfade des Individualismus selbst sind wahnsinnig ausgetreten“

          Klar, Klassiker gehen immer. Und auch für den Besuch von außerhalb dürfen es ein paar Attraktionen der Kategorie „Oldie but Goldie“ sein. Der Römer, die Paulskirche oder das Museumsufer sind schließlich nicht ohne Grund so bekannt und beliebt. Aber bitte nicht nur Massenware. Wie praktisch, dass es ein Meer von Reiseführern oder Ideen wie jenen auf dieser Seite gibt, die mit etwas anderen Ideen um die Ecke kommen. Aber warum jetzt das Ganze?

          Oft glauben wir, Erwartungen entsprechen zu müssen. Der Erwartung, hip zu sein, der Erwartung, eine perfekte Zeit zu haben oder den beliebtesten Platz der Stadt entdeckt zu haben. Die Erwartung, eben anders zu sein als alle anderen, aus der Masse herauszustechen.

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          Plot-Twist: Es ist gar nicht so wahnsinnig individuell, zu wollen, was alle wollen. „Die Pfade des Individualismus selbst sind wahnsinnig ausgetreten“, sagt Martin Hecht. Das bedeutet: Wenn alle nonkonform sein wollen, ist das ein neuer Konformismus. Gut zu beobachten etwa auf dem Iron-Maiden-Konzert Ende Juli im Waldstadion: Zigtausende unangepasste Männer mit langen Haaren und Metaller-Shirt. Alle sahen gleich aus.

          Der Mainzer Martin Hecht ist Soziologe und Politikwissenschaftler und hat sich intensiv mit Individualismus beschäftigt. In seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“ unterscheidet Hecht zwischen „Schein-Individualismus“ und echtem „Eigensinn“. Ersterer ist eine leere Hülle: der Wunsch, aus der Masse herauszustechen – so wie alle. Und zwar als Statussymbol, als Ausweis der eigenen Coolness.

          Auch wie man urlaubt oder gastgibt, kann ein solches Statussymbol sein. Das treibt ziemliche Blüten. Denn es soll ja nicht so wirken, als trotte man ausgetretenen Pfaden nach, wenn man die beliebtesten Plätze der Welt aufsucht.

          Es gibt zum Beispiel Apps, die ganze Menschen aus Bildern wegretuschieren. Ein paar Wischer mit dem Finger, und sie sind verschwunden, an ihrer statt reproduziert das Handy-Programm den Hintergrund des Fotos. Ein Selfie vor einem überfüllten Strand wird zu einem vor einer einsamen Bucht.

          Ein Porträt vom Coachella-Festival, einem ziemlich gehypten Musikevent in Kalifornien mit mehr als einer Viertelmillion Besuchern, wirkt, als hätte die Person darauf als einzige diesen coolen Spot für ihr Foto gefunden. „Epik“ heißt eine dieser Apps. Ihr Name insinuiert schon, was sie tun will: für Bilder sorgen, die episch und ganz besonders, einfach einzigartig und individuell wirken.

          Erholung von Erwartungen

          Doch all das hat eben mehr mit Erwartungsdruck als mit echter Individualität zu tun. Um den Begriff zu retten, hat Martin Hecht in seinem Buch in Anlehnung an Hermann Hesse das Konzept „Eigensinn“ untersucht. Dies ist die Fähigkeit, wirklich auf die eigene Stimme zu hören. Also einfach wirklich das machen, worauf man Lust hat. „Sie müssen sich befreien von gesellschaftlichen Erwartungszwängen“, sagt Hecht.

          Nicht ganz einfach, denn wir sind „gesellschaftlich prä-figuriert“, wie er erklärt. In unseren Entscheidungen seien wir nicht autonom. Was wir mögen, wird beeinflusst durch ein Paket von gesellschaftlichen Normen (sei individuell!), die es zu reflektieren gilt. Doch gerade Urlaub, argumentiert Hecht, sollte eine Zeit sein, in der wir uns von Erwartungsmustern erholen.

          Ein Lesetipp dafür: In „Irgendwie hatten wir uns das anders vorgestellt“ blickt Martin Hecht dezidiert darauf, warum Urlaub so erwartungsgetrieben ist und darum öfter mal schiefgeht. Was ist nun aus dieser Analyse zu machen? Müssen wir jetzt alle Pauschalurlaube buchen und uns mit unseren Gästen auf den bekanntesten Plätzen der Stadt drängen, weil wir eh alle gar nicht wirklich individuell sind? Natürlich nicht!

          In der Erkenntnis, dass die wahre Individualität ohnehin in uns liegt, da es keine zwei gleichen genetischen Sets oder das gleiche Bewusstsein auf der ganzen Welt gibt, liegt eine gewisse Entspannung. Mit der gelingt es vielleicht, wirklich zu ergründen, worauf wir Lust haben, und das dann einfach zu machen, sei es der Besuch an einem Touristen-Hotspot, weil man eben auch mal auf dem Dach eines Hochhauses stehen oder diese coole Fotoperspektive haben will, oder der Rückzug in einen schattigen Sommergarten. Ob es wirklich etwas taugt, weiß man am Ende nur selbst.

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