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Frankfurter „Streitclub“ : Die Ukraine opfern oder verteidigen?

Begehrte Waffe auch im Ukrainekrieg: ein HIMARS-Raketenwerfer, hier bei einer Übung in Japan Bild: Kyodo/dpa

Über Waffenlieferungen, Eskalationsgefahr und Friedensgespräche haben die Politologen Johannes Varwick und Carlo Masala im Frankfurter „Streitclub“ diskutiert. Einer hatte dabei einen schweren Stand.

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          Es gibt einige Punkte, in denen Carlo Masala und Johannes Varwick sich einig sind. Putin hat mit seinem Einmarsch in die Ukraine einen verheerenden Fehler begangen. Die Motive des Westens, das überfallene Land zu unterstützen, sind lauter. Die Ukraine wird nicht alle russischen Soldaten von ihrem Territorium vertreiben können. Russland darf den Krieg nicht gewinnen. Schon bevor die Waffen schweigen, muss über eine Verhandlungslösung nachgedacht werden. Und auch darin stimmen die beiden Politikwissenschaftler überein: Die Interessen der Ukraine und des Westens sind nicht deckungsgleich.

          Sascha Zoske
          Blattmacher in der Rhein-Main-Zeitung.

          Laut wird es am Montagabend im English Theatre hingegen, wenn Masala und Varwick über die Ursachen des Krieges, den Sinn von Waffenlieferungen, die Bedeutung des Wortes „gewinnen“ und konkrete Ansätze für Friedensgespräche diskutieren. Dann können Nicole Deitelhoff und Michel Friedman, die Gastgeber des „Streitclubs“, den Disput mitunter nur noch schwer in geordneten Bahnen halten. Wobei die Moderatoren auch deutlich erkennen lassen, wessen Argumente sie überzeugender finden.

          Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München.
          Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. : Bild: dpa

          Erstunterzeichner des „Manifests für den Frieden“

          Varwick hat in der Veranstaltung mit dem Titel „Europas Sicherheit – Sind wir auf Krieg vorbereitet?“ einen schweren Stand. Der Professor an der Uni Halle-Wittenberg gehört zu den Erstunterzeichnern des „Manifests für den Frieden“, in dem ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert wird. Im „Streitclub“ warnt er vor einer „Rutschbahn“ in die direkte Konfrontation zwischen Russland und der NATO und fordert, der Diplomatie eine Chance zu geben. Dafür muss er sich von Masala, Friedman und Deitelhoff mehr oder minder offen vorhalten lassen, dem Aggressor Putin in die Hände zu spielen.

          Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Uni Halle-Wittenberg.
          Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Uni Halle-Wittenberg. : Bild: F.A.Z.

          Man darf Varwick zugutehalten, dass er kein Amerikahasser und Bundeswehrfeind ist. Er nimmt nicht die Vorlage eines auf das Podium gebetenen Gymnasiasten der Ziehenschule auf, der nach „imperialistischen“ Interessen der „kapitalistischen“ USA in der Ukraine fragt. Eher fühlt er sich einer vorsichtigen deutschen Sicherheitspolitik verpflichtet, die stets auch auf den Ausgleich mit Russland bedacht war.

          Warnung vor Einsatz taktischer Atomwaffen

          Allerdings scheitert der Politologe beim Versuch, auch nur in Ansätzen zu skizzieren, wie eine Friedenslösung für die Ukraine aussehen könnte, die nicht auf die Akzeptanz der aktuellen russischen Eroberungen hinauslaufen würde. Er verweist darauf, dass die annektierten Gebiete aus Putins Sicht nun „russisches Territorium“ seien. Dies sei die Realität, mit der man umgehen müsse, auch wenn sie im Widerspruch zum Völkerrecht stehe. Versuche die Ukraine, diese Regionen zu befreien, bestehe im Extremfall die Gefahr, dass Russland taktische Atomwaffen einsetze. Deitelhoff fasste Varwicks Position so zusammen: „Ihr Argument ist, wir müssen die Ukraine opfern für die europäische Sicherheit.“ Sein Widerpart auf dem Podium hingegen sage, für die europäische Sicherheit müsse man die Ukraine verteidigen.

          Masala, Professor an der Universität der Bundeswehr in München, sieht in Waffenlieferungen die Voraussetzung, um überhaupt in Verhandlungen einsteigen zu können. Nur wenn sich Putins Kosten-Nutzen-Kalkül verändere, werde er zu Kompromissen bereit sein, die diesen Namen verdienten. Das Eskalationsrisiko sei beherrschbar. Der Westen werde der Ukraine keine Atomwaffen, Mittelstreckenraketen oder U-Boote liefern, und er werde das Land nicht so hochrüsten, dass seine Armee tief in russisches Territorium vordringen könne. „Die Amerikaner halten die Ukrainer sogar zurück, die Brücke zur Krim völlig plattzumachen.“ Eine „Rutschbahn“ hin zum dritten Weltkrieg gebe es nicht, der Westen habe die Freiheit, seine Unterstützung für die Ukraine angemessen zu dosieren.

          Fragwürdiges Hoffen auf Lulas Initiative

          Varwick hingegen sieht den Westen auf den „Weg in die direkte Kriegsbeteiligung“, etwa weil er die Ukrainer mit Zielkoordinaten für HIMARS-Raketenwerfer versorge. Man operiere in einem völkerrechtlichen „Graubereich“. Masala meint, dass die NATO-Staaten völkerrechtlich nicht Kriegspartei seien – aber sehr wohl aus der politischen Sicht Russlands, und das schon seit Beginn des Konflikts.

          Beendet werden kann er nach Ansicht Varwicks nur auf diplomatischem Weg, und deswegen verdienten Vorstöße wie der des brasilianischen Präsidenten Lula Unterstützung. Auf diesen zu setzen, hält Friedensforscherin Deitelhoff offenkundig für naiv. Es sei nicht erkennbar, welcher Plan hinter der Initiative stehe. Und vor allem: „Lula spielt nicht mal an Putins Horizont eine Rolle.“

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