Frankfurter Gesichter : Uwe Gehrmann und die Philosophie der Selbstverantwortung
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Leiter der IGS Süd in Frankfurt-Sachsenhausen: Uwe Gehrmann Bild: Zeichnung Oliver Sebel
Uwe Gehrmanns leitet die IGS Süd im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen und kann mit Anarchie und Kuschelpädagogik nichts anfangen. Stattdessen sollen die Schüler individuell entscheiden, was sie wann lernen möchten.
Uwe Gehrmanns Welt ist seit diesem Jahr komplett. Nach Afrika, Asien und Europa sind nun auch Süd- und Nordamerika vollständig bevölkert. An der Integrierten Gesamtschule Süd, die Gehrmann mit erschaffen hat, lernen Kinder nicht in Klassen, sondern in jahrgangsübergreifenden Gruppen. Die drei Kontinente der Alten Welt gehören Jüngeren von Stufe fünf bis sieben. Die Neue Welt ist das Terrain der Älteren von Stufe acht an. Der allererste Jahrgang der 2016 gegründeten Schule ist inzwischen in Stufe zehn emporgewachsen.
Gehrmann, ein sportlicher, großer, grau gelockter Mann von 62 Jahren, geht grüßend durch die hohen Flure, hat für jedes Kind ein kurzes Wort. In den Sandsteinbauten in Sachsenhausen waren vorher die Textor- und die Schwanthalerschule, eine Grund- und eine Hauptschule. Die eine zog um, die andere schloss, und die vom Willen zum Neuen beseelte Gruppe um Gehrmann griff zu: Sie entwickelte ein Konzept für eine eigenständige Integrierte Gesamtschule, wie es sie in der Stadt noch nicht gab. „Das Motto war: Think big.“
Vorher war Gehrmann Schulleiter der IGS Nordend, noch davor in der Schulleitung einer Kooperativen Gesamtschule in Sprendlingen. Erfahrungen als Systementwickler von Schulprogrammen sammelte er auch. Ausgebildet ist er als Haupt- und Realschullehrer, er hat Biologie, Sport und Germanistik studiert. Für das Fach Darstellendes Spiel erarbeitete er einst Rahmenpläne für das Staatliche Schulamt Offenbach. „Dann wurde Roland Koch gewählt und das Fach abgeschafft.“
Wenn Gehrmann wieder einmal Besuch bekommt von Fachleuten, die sich etwas abschauen wollen, braucht er anderthalb Stunden, um seine Schule zu erklären. Gelernt wird mit Bausteinen – Kunststoffboxen mit Karten, auf denen der Stoff steht. 120 verschiedene Boxen gibt es, immer zehn Exemplare. Morgens entscheidet jedes Kind, in welchem Fachbüro es mit einer der 1200 Boxen lernen will: Mathe? Deutsch? Englisch? „Unser Job ist, das Kind zu motivieren, selbst lernen zu wollen.“ Statt Klassenarbeiten schreibt jedes Kind einen Test, wenn es so weit ist. Die Nebenfächer gehen im großen Fach Leben und den Werkstätten auf, fürs Miteinander gibt es Fachprojekte. Da geht es zum Beispiel ein paar Wochen lang um Michael Endes „Momo“.
Er redet schnell, aber begeistert
Gehrmann hat das schon oft erzählt. Er redet schnell, aber begeistert. Zweifel habe er „immer, aber nicht prinzipiell“. Mit Anarchie und Kuschelpädagogik kann er nichts anfangen. „Freiheit braucht Struktur.“ Die Schüler dokumentieren die Lernschritte in einem Logbuch, immer freitags sind Evaluationsgespräche mit Lehrern. Zweiseitige Zertifikate ersetzen Noten. Ein paar Gymnasiasten fragten die Gesamtschüler kürzlich: „Aber dann könnt ihr euch doch gar nicht vergleichen?“ Gehrmann sagt: Genau. Das ist der Sinn.
In Offenbach geboren und zur Schule gegangen, wohnt er nah der IGS in Sachsenhausen und will auch nicht fort, wenn er in vier Jahren in den Ruhestand geht. Höchstens nach Marseille, wo er mit seiner Partnerin, der pädagogischen Leiterin der Georg-Büchner-Schule, eine Wohnung hat. Aber dann wären die Kinder und der Enkel weit weg und der Odenwald, wo er gerne wandert. Er arbeite viel, könne seine Energie aber gut einteilen. Echtes Delegieren falle ihm nicht schwer: Die Philosophie der Selbstverantwortung müsse er vorleben. Aber „egal, was ich mache, ich will es besonders gut machen“. Als Saxophonist hörte er auf, als er nicht mehr zum Üben kam. Als Schulleiter glaubt Gehrmann daran, die Welt verändern zu können, indem er sie im Kleinen verändert. Auf den Erdteilen der IGS Süd.