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Preisgekrönte Psychologin : Gegen den Mythos vom geborenen Lehrer

Preisgekrönt: Psychologin Mareike Kunter Bild: Wonge Bergmann

Die Frankfurter Psychologin Mareike Kunter untersucht die Kompetenz von Pädagogen und ist für ihre Erkenntnisse geehrt worden. Das alte „Sender-Empfänger-Modell“ etwa sei überholt, meint sie.

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          Meist verzichtete der Englischlehrer darauf, mit den Schülern Englisch zu reden. Auch sonst wirkten die didaktischen Bemühungen von Herrn P. auf die Neuntklässler wenig überzeugend. Zwei von ihnen widmeten sich während des Unterrichts regelmäßig dem Schachspiel. Nach einigen fruchtlosen Ermahnungen verfiel Herr P. auf eine brillante Idee: Er brachte ein englisches Schachbuch mit. Die beiden Lernverweigerer blätterten kurz darin, dann setzten sie ihre Partie unbeeindruckt vom Geschehen an der Tafel fort. Immerhin hat der eine sich gemerkt, was „Schachmatt“ auf Englisch heißt.

          Sascha Zoske
          Blattmacher in der Rhein-Main-Zeitung.

          An seinem Urteil über den Lehrer hat er bis ins fortgeschrittene Alter festgehalten: Herr P., ein sanfter Mann ohne natürliche Autorität, war im Klassenzimmer fehl am Platz. Mareike Kunter hingegen zweifelt daran, dass es so etwas wie natürliche Autorität überhaupt gibt. Die Psychologin vermutet, Herr P. habe in seiner Ausbildung nie das gelernt, was man neudeutsch „Classroom Management“ nennt: die Aufmerksamkeit der Schüler gewinnen und behalten, klare Regeln setzen, Verstöße angemessen ahnden.

          Intelligenz? Kompetenz!

          Kunter hat sich darauf spezialisiert, die Fähigkeiten von Lehrern zu untersuchen. Ihre Forschungen und die internationale Aufmerksamkeit, die sie dafür bekommt, haben ihr kürzlich den Titel „Scientist of the Year“ eingebracht. Die Alfons-und-Gertrud-Kassel-Stiftung ehrt damit herausragende Wissenschaftler der Universität Frankfurt; dotiert ist die Auszeichnung mit 25.000 Euro.

          Wenn Kunter beschreiben soll, was einen guten Pädagogen ausmacht, spricht sie von Kompetenz – nicht von Intelligenz, Talent oder Persönlichkeit. Der IQ, ein kaum veränderliches Merkmal, eigne sich nicht für die Vorhersage, ob ein Lehrer erfolgreich unterrichten werde. Charakterzüge wie Gewissenhaftigkeit oder emotionale Stabilität wiederum könnten im Klassenraum von Vorteil sein, aber auch an jedem anderen Arbeitsplatz. Daher konzentriert sich Kunter auf Fähigkeiten und Eigenschaften, die erlernbar oder beeinflussbar sind.

          Ihr Modell zur Beschreibung der Lehr-Kompetenz umfasst vier Elemente. Zum einen das professionelle Wissen, das sich in Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und allgemeine bildungswissenschaftliche Kenntnisse unterteilt. Zweitens interessiert sich Kunter für die professionellen Überzeugungen von Lehrern – etwa ihre Einstellung zu Gruppenarbeit. Das dritte Merkmal nennt sie „motivationale Orientierung“: Hat der Lehrer Freude an seinem Beruf, bereitet er sich gerne auf die Unterricht vor? Das vierte Element ist die Selbstregulation: Kann ein Pädagoge mit seinen Kräften gut haushalten, steht er stressige Schulstunden besser durch?

          „Gute Abiturienten werden bessere Studierende“

          Kunter glaubt nicht, dass sich durch Eignungstests Kandidaten identifizieren lassen, die auf diesen vier Feldern besonders gut abschneiden. Dass man in Deutschland das Abitur brauche, um Lehrer zu werden, sei schon ein Selektionskriterium. Auch eine mit Bravour abgelegte Reifeprüfung sei keine Garantie für spätere pädagogische Spitzenleistungen, aber: „Gute Abiturienten werden bessere Studierende“, die sich die nötigen Berufskompetenzen eher aneigneten.

          Die Annahme, dass es vorwiegend weniger begabte Schulabgänger in den Lehrerberuf ziehe, weil sie sich davon viel Freizeit und finanzielle Sicherheit versprächen, ist nach Kunters Worten schlecht belegt. Was sich hingegen nachweisen lasse, sei die positive Wirkung erlernten Könnens auf den Unterricht. Hierzu zählt Kunter vor allem die fachdidaktischen Fähigkeiten, während das reine Fachwissen des Lehrers nicht unbedingt den Lernerfolg erhöhe. Von angehenden Pädagogen eingeübt werden können aber auch Methoden der Selbstregulation – zum Beispiel Stressmanagement –, die laut Kunter ebenfalls belegbaren Einfluss auf die Schülerleistungen haben.

          Konsequenterweise fordert die Wissenschaftlerin, statt der Auswahl lieber die Ausbildung der Lehramtsstudenten zu verbessern. Das könne durch strukturelle und inhaltliche Veränderungen geschehen. Das Schaffen übergreifender Organisationseinheiten wie der Frankfurter Akademie für Lehrerbildung und die bessere Koordination des Lehrstoffs sind für die Forscherin Schritte in die richtige Richtung. Was die Inhalte betreffe, so sei es wichtig, im Studium „Laienvorstellungen über das Lernen zu brechen und zu professionalisieren“. Das alte „Sender-Empfänger-Modell“ etwa sei überholt; die Wissenschaft verstehe Lernen heute als einen „Prozess des gemeinsamen Erarbeitens“.

          Zu den Mythen aus dem Schulalltag gehört für Kunter auch die Behauptung, dass Lehrer ein besonders hohes Burnout-Risiko hätten. Sie wolle die Leiden erschöpfter Pädagogen nicht bagatellisieren, aber: „Tagtäglich machen Tausende Lehrer ihren Unterricht gut und gerne.“ Das Tragische sei: „Die, die einen ordentlichen Job machen, bleiben oft nicht im Gedächtnis.“ In der Tat – lebhaft ist bis heute bei seinem einstigen Schüler die Erinnerung an Herrn P., den Englischlehrer, der ungern Englisch sprach.

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