„Free Walking Tour“ : Für Trinkgeld zeigen sie ihre Stadt
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„Wir entdecken das Viertel anhand seiner Probleme“: Der Jura-Student Nedal Georges zeigt seinen Zuhörern die Bordelle an der Elbestraße. Bild: Niklas Grapatin
Viel Bahnhofsviertel, wenig Geschichte: Frankfurter Studenten bieten eine alternative Stadtführung für junge Touristen an. Am Ende entscheiden die Teilnehmer selbst, wie viel sie ihnen wert war.
Nedal Georges wartet bis kurz vor zwei, dann hängt er sich den Stoffbeutel vor den Bauch. „Frankfurt Free Alternative Walking Tour“ steht dort auf knalligem Orange. So warm ist der Freitagnachmittag, dass viele Fußgänger im T-Shirt durch das Bahnhofsviertel schlendern: perfektes Wetter für eine Stadtführung.
Georges, 25 Jahre alt, Jurastudent, Kumpeltyp, tritt aus dem Schatten eines Hauses in die pralle Sonne: Dort können sie ihn nicht übersehen, die Rucksacktouristen und Studenten auf Europareise – ihn und seinen Stoffbeutel.
Lange braucht er nicht zu warten, zwei junge Frauen kommen auf ihn zu. „Where are you guys from?“, will er gleich wissen. Auf Englisch, denn die jungen Touristen, denen er heute Frankfurt zeigen wird, kommen aus Malaysia, Frankreich, China, Rumänien, der Dominikanischen Republik und Brasilien. Sie haben die Tour im Internet entdeckt oder in ihrer Jugendherberge davon erfahren.
Heute sind sie zu neunt, am Wochenende kommen bis zu 30, die meisten kaum älter als Georges. Nach und nach trudeln sie ein, an der Straßenecke, wo Kaiser- und Moselstraße sich kreuzen, wie es auf der Internetseite steht. „Habt ihr Wasser dabei?“, vergewissert sich Georges, denn die Gruppe wird in den nächsten drei Stunden zu Fuß die Stadt erkunden.
Jünger, individueller und weniger Geschichte
„Alternative“ heißt die Tour, weil ihr Blick auf die Stadt anders sein soll als bei einer klassischen Stadtführung: jünger, individueller, weniger Geschichte, mehr Lifestyle. „Free“, weil allein die Teilnehmer entscheiden, ob und wie viel Geld sie Georges nach der Führung geben. Er muss sie deshalb bis zum Ende bei Laune halten, nicht nur informieren, sondern auch unterhalten.
Georges ist deshalb keine Faktenschleuder, sondern fast genauso Protagonist der Führung wie die Stadt selbst. Er zeigt nicht einfach nur Frankfurt, er zeigt sein Frankfurt – die Stadt, in der er lebt, wie er sie sieht. Als er zum Studieren herzog, sei er zuerst nicht mit ihr warm geworden. „Erst ein Jahr nach meiner Ankunft habe ich angefangen, sie zu mögen“, sagt er. Daran sei auch sein Lieblingsstadtteil schuld, das Bahnhofsviertel, wegen der Bars und Clubs, dem Gemüsehändler an der Münchener Straße und der besten Currywurst der Stadt. Deshalb beginnt auch dort die Tour.
Bahnhofsviertel anhand seiner Probleme entdecken
Die kleine Liebeserklärung an das Bahnhofsviertel vorab ist wichtig, denn was die Gruppe dann mit eigenen Augen sieht, wirkt weniger idyllisch. „Wir entdecken das Viertel anhand seiner Probleme“, sagt Georges und führt durch verdreckte Straßen, vorbei an den Junkies, die vor den Fixerstuben auf dem Boden sitzen. Vor einem Bordell macht er Halt und erklärt, wie wenig die Prostituierten verdienten und dass sie 140 Euro Miete am Tag für ein Zimmer zahlen müssten. Die Freier, die aus der Tür kommen, werfen den Touristen einen misstrauischen Blick zu und gehen dann schnell weiter.
Doch das Viertel habe auch eine andere Seite, einige seiner Freunde müssten hier bald wegziehen. Georges muss einfache Wörter verwenden, bei keinem seiner Zuhörer ist Englisch die Muttersprache. Statt „Gentrifizierung“ sagt er deshalb: „Man will nur noch die Banker in diesem Viertel haben.“
Sehenswürdigkeiten abklappern ist nicht das Konzept
Stadtführungen, die frisch und anders sein wollen und höchstens Trinkgeld kosten, gibt es inzwischen auf der ganzen Welt. Organisiert werden sie teils von kleinen, lokalen Teams, teils von größeren Anbietern wie „Sandemans New Europe“ mit Touren in 18 Städten auf drei Kontinenten. In Frankfurt sind alle sieben Stadtführer Studenten, um Organisation und Marketing kümmern sich Georges und seine Freundin Jennifer Lacher. Was sie zeigen, wohin sie gehen, das entscheiden die Studenten selbst.