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Frankfurter Bahnhofsviertel : „An der Grenze zur unterlassenen Hilfeleistung“

  • Aktualisiert am

Müll prägt das Stadtbild, vor allem in den Morgenstunden: die Niddastraße im Frankfurter Bahnhofsviertel Bild: Maximilian von Lachner

Eine Bewohnerin des Frankfurter Bahnhofsviertels kann die Zustände vor ihrer Haustür nicht mehr ertragen. In einem Brief fordert die Ärztin Gesundheitsdezernent Majer auf, etwas zu tun. Lesen Sie ihre Beschreibung der Lage hier gekürzt.

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          Sehr geehrter Herr Majer, ich schreibe Ihnen bezugnehmend auf einen Artikel der F.A.Z. vom 5. Juli, in dem Sie zitiert werden mit der Aussage, dass Drogenabhängige nicht „,aus dem Auge aus dem Sinn‘ in Hinterhöfe abgeschoben“ werden sollen, sowie, dass es ausgehalten werden muss, dass in der Stadt Frankfurt Menschen obdachlos und drogenabhängig sind und einige keine Hilfsangebote annehmen.

          Ich stimme dieser Aussage grundsätzlich zu, denke jedoch, dass sie in der aktuellen Situation nicht ausreichend ist. Meine Kritikpunkte würde ich gerne mit Ihnen diskutieren.

          Ich wohne seit nunmehr neun Jahren im Bahnhofsviertel. Dies zumeist gerne und mit den Besonderheiten, die dieses Viertel mit sich bringt. Ich bin Internistin und Infektiologin, habe als Studentin im Konsumraum Elbestraße gearbeitet und bin mit der Historie des Frankfurter Weges vertraut. Es ist mir vollkommen bewusst, dass Drogenkonsum und Obdachlosigkeit nicht mit Polizeipräsenz, Essenstütchen und einfühlsamen Gesprächen mit Betroffenen gelöst werden können. Dennoch bewegt mich die aktuelle Lage und bringt mich an den Rand der Verzweiflung. Ich frage mich, wie Zustände wie die vor unserem Wohnhaus hingenommen werden können. Die aktuelle Situation ist durch die Corona-Pandemie extrem verschärft. Sie ist meiner Ansicht nach unerträglich und in der Konsequenz menschenverachtend. Eine menschenverachtende Politik darf nicht Teil des Frankfurter Weges sein.

          Keine Chance, Abstand oder Hygieneregeln einzuhalten

          Es ist eine Sache, sich über Verschmutzung, offene Spritzen und im Hauseingang Lagernde zu beschweren und zu fordern, dass „etwas passiert“ – es ist jedoch eine andere Sache, zu sagen und zu sehen, dass aktuell offensichtlich hilfebedürftige Menschen auf der Straße vegetieren und die Straße nach offenen Wunden und Exkrementen riecht. Insbesondere in der Pandemiesituation ist es eine Katastrophe, dass Menschen aufeinandergepfercht lagern und keine Chance besteht, Abstand oder Hygieneregeln einzuhalten.

          Covid-19 kann bei schwerwiegendem Verlauf zu einer raschen Sauerstoffunterversorgung führen, welche von Infizierten oft nicht bemerkt wird. Dies ist potentiell lebensbedrohlich. Dass es bisher noch zu keinem Ausbruch (und konsekutiv auch zu Todesfällen) in der Frankfurter Drogenszene gekommen ist, ist absolutes Glück und sicherlich nicht den verschärften präventiven Maßnahmen zuzuschreiben.

          Von eventuell stattgefundenen Maßnahmen haben zumindest wir als Anwohner hier nichts bemerken können. Ganz im Gegenteil. Die einzigen Instanzen, die sich hier blicken lassen, sind Polizei (Megafonansage: „Bitte halten Sie Abstand“ – ohne Konsequenz), FES (um die am Boden Liegenden herum wird geputzt) und private Essensverteiler.

          „Zynische Parolen“

          Die Essensverteilung ist unter Hygieneaspekten kritisch zu werten. Es sammelt sich Müll, Kakerlaken und Mäuse werden angezogen und Abstandsregeln können nicht eingehalten werden. Auch sehe ich es kritisch, dass durch die Essensverteilung möglicherweise die letzte verbleibende Selbstfürsorge der Drogenkranken verhindert wird.

          Streetworker, Frankfurter Politiker oder Passanten lassen sich meiner Wahrnehmung nach seit Monaten nicht mehr hier blicken. Parolen wie „wir müssen das aushalten“ wirken hier eher zynisch.

          Wenn wimmernde Menschen vor der Tür liegen, befinden wir als Anwohner uns nahezu täglich an der Grenze zur unterlassenen Hilfeleistung, wenn wir unser Haus betreten oder verlassen. Wie oft habe ich in den letzten Wochen vom Fenster aus die Polizei gerufen, wenn beispielsweise Menschen mit Bügeleisen, Flaschen oder Straßenschildern aufeinander losgehen. Wie oft habe ich überlegt, ob es sich lohnt, da, bis die Polizei ankommt, sich das Ganze möglicherweise schon wieder verlagert hat.

          In der F.A.Z. vom 4. Juli wurde berichtet, dass angenommen wird, dass zwei von drei Drogenabhängigen auch psychiatrische Nebendiagnosen haben. Ich teile diese Einschätzung aus meinen Erfahrungen. Auch psychiatrische Erkrankungen sind Erkrankungen, Hilfe und Hilfsangebote zu unterlassen ist falsch. Die aktuelle Situation in der Nidda- und Moselstraße gleicht einer offenen Psychiatrie ohne entsprechende Therapieangebote, hier ist dringliches Handeln notwendig.

          Insbesondere wenn es um solidarisches Miteinander in Frankfurt gehen soll, kann es nicht sein, dass hilfebedürftige Menschen auf einen engen Raum (wie Mosel-, Elbe- und Niddastraße) zusammengeschoben werden.

          Noch weniger kann es sein, dass große Teile der Verantwortlichen keinen realen Eindruck von der Ausprägung des Elends haben, da sie bestenfalls Bilder kennen oder mal einen Spaziergang tagsüber durch das Viertel gemacht haben oder sich in die Gruppe der meines Erachtens kontraproduktiven Essensverteiler einreihen.

          Die Verfasserin wohnt im Bahnhofsviertel und arbeitet als Ärztin. Sie möchte nicht namentlich genannt werden, ihre Identität ist der Redaktion jedoch bekannt.

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