Ferienlager der Pfadfinder : Räucherritual statt Fahnenappell
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Ruhepause: Der Pfadfinder-Stamm der Cherusker kommt im Zeltlager zu einem Abschlussgottesdienst zusammen. Bild: Kretzer, Michael
In einem Pfadfinderlager zimmern Jugendliche Flöße und Klappstühle wie vor 100 Jahren. Das Smartphone hat Sendepause.
Die Fahne ist weg. Die Cherusker haben ihr Fehlen am Morgen bemerkt, erst Stunden nach dem Überfall eines anderen Stammes im Schutz der Dunkelheit. Eigentlich sollte sie an einem Hochstand im Wind wehen. Weil die Nachtwache aber geschlafen hat, statt die Fahne zu verteidigen, ist deren Platz jetzt leer. Seit die Pfadfinder des Cherusker-Stammes in Schwanheim campieren, ist ihnen schon viermal die Fahne abhanden gekommen.
„So was passiert immer wieder“, sagt Thomas Berg. Er gehört zum Vorstand der Cherusker, einer von elf Ortsgruppen der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) in Frankfurt. Berg hat das Lager für die Kinder und Jugendlichen mitorganisiert, zu dem auch eine Gruppe aus Irland angereist ist. Der Dreißigjährige trägt die Pfadfinderkluft, die aus Hemd, Halstuch und kurzer Hose besteht. Die Mückenstiche an seinen Beinen verraten die Nähe zum stehenden Gewässer: Die Cherusker haben ihr Lager am Teich der Angelsportgemeinschaft Schwanheim aufgeschlagen.
Arbeit an der frischen Luft
Mit der Organisation des Sommerlagers will Berg etwas zurückgeben. Er sagt, dass er den Pfadfindern selbst viel verdanke: Durch sie habe er Menschenkenntnis erlangt, Sozialkompetenz und Führungsqualitäten. Mit einem einzigen Wort kann er zusammenfassen, was die Jugendbewegung für ihn ausmacht: „Gemeinschaft“. Wie alle Pfadfinder hat er bei seinem Eintritt ein Versprechen abgelegt. Es ist ein Bekenntnis zur Gruppe und ihren Werten, etwa Solidarität und Toleranz. Im Laufe der Jahre wird es mehrmals erneuert.
Am Ufer des Teichs steigt Rauch auf, es riecht nach Lagerfeuer. Im Sommerlager ist Aktionstag. Eine junge Frau nickt im Vorbeigehen zum Besuch hinüber, sie hat sich eine schwarze körnige Masse ins Gesicht geschmiert. Die Pfadfinder können in Workshops an einer fußbetriebenen Esse Messer schmieden und mit Kaffeesatz und Asche Naturkosmetik anrühren. Andere haben das Gelände verlassen, um klettern zu gehen oder ein Floß für eine Fahrt auf der Nidda zu bauen.
Die Pfadfinder mögen es, an der frischen Luft zu arbeiten. Das beschränkt sich nicht auf Essbesteck und Hautcreme. „Wir nutzen das, was wir in der Welt vorfinden“, sagt Tim. Der blonde schlaksige Sechzehnjährige hat an dem Hochstand mitgebaut, an dem bis vor kurzem die Fahne hing. Dafür hätten sie keine Schrauben oder Nägel benutzt, sondern nur Schnüre, erzählt er. Trotzdem ist der Hochstand stabil, mehrere Erwachsene können darauf stehen.
Ganze Familien von Pfadfindern
Was die Jugendlichen dafür wissen mussten, haben sie im Laufe der Jahre bei den Pfadfindern gelernt. „,Learning by doing‘ ist bei uns ein zentrales Motto“, sagt der Limburger Diözesanvorsitzende David Heun. Die DPSG ist ein katholischer Pfadfinderverband, Heun betreut als eine Art Landesvorsitzender 38 Stämme in Hessen. Es komme durchaus vor, sagt er, dass eine Gruppe Siebenjähriger auf eigene Faust Nudeln für die ganze Mannschaft koche. „Wir sagen ihnen: Probiert es einfach aus. Wenn die Nudeln am Ende versalzen sind, dann macht ihr sie nächstes Mal eben besser.“
Olivia, ein Mädchen mit langen blonden Haaren und großen blauen Augen, kauert vor einer leeren Konservendose mit Löchern. Den Hobokocher hat die Neunjährige selbst gebaut und darin mit Blättern und Pappe ein Feuer entzündet. Für ihren Workshop habe sie sich entschieden, weil ihr der Kocher in der freien Natur nützlich sein werde, erzählt sie. „Ich wollte schon immer Pfadfinder werden“, sagt sie. „Alle in meiner Familie waren Pfadfinder, meine Brüder, meine Mutter und meine Oma.“
Das ist im Sommerlager eine typische Geschichte, viele können einen regelrechten Stammbaum vorweisen. Pfadfinder zu sein ist erblich - oder ansteckend. So wie bei Felix und seinem Freund Samuel. Der acht Jahre alte Junge mit dem dünnen blonden Zopf am Hinterkopf flitzt zwischen den Zelten umher, um Gras für den Erdofen aus Lehm und Wasser zu sammeln. Den errichten einige Jungen am Teichufer, um später Brot und Kuchen zu backen. „Ich mag vor allem die Spiele bei den wöchentlichen Stammestreffen, Fangen zum Beispiel oder Reifenstechen“, sagt Felix. Wegen seiner Geschichten über das Pfadfinderleben ist auch Samuel Cherusker geworden.
Endlich mal weg von Facebook
Je älter der Pfadfinder, desto größer die Abenteuer. „Eine Gruppe der Älteren ist gerade auf einer eigenständig geplanten Korsika-Reise“, erzählt Berg. Eine andere fahre mit einem selbstgebauten Floß die Donau hinunter. Jugendlichen bieten die Pfadfinder neben Abenteuern auch eine Gelegenheit, dem Wahnsinn der Pubertät mit ihren Vergleichen und Selbstzweifeln zu entkommen. Das klingt durch, wenn der 14 Jahre alte Fabio beschreibt, warum er sich bei den Pfadfindern wohl fühlt. „Hier wird jeder so angenommen, wie er ist, das finde ich gut“, sagt er. Niemand müsse sich verstellen oder den anderen etwas beweisen.
Tim schätzt die Ruhe, die er bei den Cheruskern findet: „Hier komme ich endlich mal weg von den Medien.“ Weg vom Internet, vor allem weg von Facebook.
Die Pfadfinder pflegen eine altmodische Naturromantik, wenn sie Reiseklappstühle zimmern und in einem Tipi Räucherrituale zelebrieren. Im Grunde passen sie aber in eine Zeit, in der junge Städter Schrebergärten hegen und gestresste Manager Klosterurlaub buchen.
40 Millionen Pfadfinder weltweit
Anhänger hat die Jugendbewegung rund um den Globus. Mehr als 40 Millionen Mitglieder zählt die Weltpfadfinderorganisation, das sind mehr, als Polen Einwohner hat. In Deutschland sinke die Zahl der Pfadfinder, jedoch gebe es ein Stadt-Land-Gefälle, sagt Heun. „In ländlichen Gegenden sind viele Erwachsene bereit, sich zu engagieren, da mangelt es aber an Nachwuchs. In der Stadt ist es oft umgekehrt.“
Auch die Cherusker hätten eine Warteliste für die Wölflinge, die jüngste der vier Altersstufen. Auf sie folgen die Jungpfadfinder, Pfadfinder und Rover. Die Bewegung will junge Menschen dazu bringen, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Deshalb kann als Gruppenleiter dabeibleiben, wer älter als 20 Jahre ist. Von ihnen gibt es derzeit zu wenige.
Die Altersgruppen tragen Halstücher in unterschiedlichen Farben. Bergs Halstuch ist blassrot, es weist ihn als Gruppenleiter mit internationaler Ausbildung aus. Er trägt es sogar privat, so stolz ist er darauf, Pfadfinder zu sein. „Das bringt mich schnell mit Menschen ins Gespräch und öffnet mir häufig Türen.“
Gelegentlich muss er in diesen Gesprächen Vorurteile widerlegen, vor allem, dass die Bewegung eine Gemeinschaft naturverliebter Hippies sei. „Viele Menschen denken ja, dass wir nur durch den Wald laufen und Pflanzen sammeln“, sagt Heun. Er leugnet zwar nicht, dass das auch eine Methode der Pfadfinder sei. Das Image der Bewegung findet er aber etwas kurios, erst recht in Anbetracht ihrer Geschichte. Der britische General Robert Baden-Powell hatte 1899 ein Buch geschrieben, in dem er die Ausbildung von Soldaten zu Kundschaftern beschrieb. Es wurde zu einem Bestseller, das vor allem Jugendliche kauften. Sie hätten danach Krieg gespielt, sagt er. „Baden-Powell hat daraus eine Jugendbewegung geformt, die viel vom Militär übernommen hat. Dazu gehören die Uniformen, um die soziale Herkunft der Kinder zu verbergen.“
Selbst einen Fahnenappell gab es einst bei den Pfadfindern. Der wurde in Deutschland abgeschafft, weil die Hitlerjugend vieles von den Pfadfindern übernommen hatte. „Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man sich von allem Militärischen distanzieren“, sagt Heun. Hierzulande legen die Pfadfinder viel Wert auf Freiheit, ziehen nach Lust und Laune in die Natur hinaus und setzen sich mit der Gitarre im Kreis um ein Lagerfeuer.
Zwei Tage nach dem Aktionstag der Cherusker sind die Messer geschmiedet, der Erdofen ähnelt einem Fuchsbau und raucht. Ihre Fahne haben die Pfadfinder im Tausch gegen einen Kasten Bier zurückbekommen, sie weht jetzt wieder am Hochstand. Die Mitglieder der Angelsportgemeinschaft wollen ihn weiter nutzen, wenn die Cherusker ihre Zelte abgebaut haben. Sie mögen den Hochstand, weil sich mehrere Leute bequem darauf sonnen können. Tim sagt, dass er sehr gut illustriere, was das große Ziel aller Pfadfinder sei. „Wir wollen die Welt ein bisschen besser zurücklassen, als wir sie vorgefunden haben.“