F.A.Z.-Leser helfen : Keine Spuren von Fremdeinwirkung
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Die Frage nach der Schuld
Evan hat seinen Sohn allein groß gezogen. Dieser musste früh eine Klasse wiederholen nach dem erlittenen Trauma, doch der Vater hat für ihn gekämpft. Fand eine Trauergruppe für Kinder, in der der Sohn andere Kinder traf, die Väter und Mütter verloren hatten. Aber die hatten alle einen schweren Unfall erlitten oder Krebs. „Der Unterschied ist, dass ein Suizid in der Familie passiert und die Frage nach der Schuld so immer eine Rolle spielt“, sagt er. Betroffene Angehörige, Verwandte und Freunde stellen sie sich, manche auch stumm. „Sooft man auch gesagt bekommt, du bist nicht schuld, es bleibt doch immer etwas offen.“
Der Vater fährt viel Motocross mit dem Sohn. Wenn sie auf den Maschinen unterwegs sind, ist es laut und dreckig. Keine Zeit, um zu grübeln. Und auch ein bisschen gefährlich ist dieses Hobby, man kann stürzen, sich verletzen. Deshalb hätte die Mutter das wohl nie erlaubt, sagt er und lacht. Lakritzschwarz erscheint auch der Humor, der ihnen beim Weiterleben hilft. Manchmal scheint auch Trotz durch im Gespräch: Seht her, wir wollen und können trotzdem noch Spaß haben im Leben. Das war nicht immer leicht.
Ein Jahr nach dem Suizid kam der Vater an seine Belastungsgrenze. Er arbeitete im Außendienst, fuhr abends um acht noch von Hamburg zurück nach Frankfurt, weil der Sohn morgens in die Schule musste und er ihn unbedingt wecken wollte. Auf Dauer hielt das auch der Mann nicht aus, der nach außen so stark und lebensfroh wirkt. Er suchte sich psychologische Hilfe. Eine Nichte brachte ihn damals zu Agus, dem Selbsthilfeverein für Angehörige um Suizid, den es mittlerweile in 70 Städten in Deutschland gibt, seit zwölf Jahren in Frankfurt, seit einem in Darmstadt und schon länger in Gießen.
Vera Pfeil und Renata Wagner sind die zwei ehrenamtlichen Gruppenleiterinnen dort. Beide haben selbst ihre Lebenspartner durch Suizid verloren. An jedem vierten Samstag im Monat treffen sie sich mit rund einem Dutzend Menschen, um über den Suizid des Partners, eines Elternteils, von Geschwistern oder – viel seltener – auch eines Kindes zu sprechen.
„Mein Mann ist 2009 vom Goetheturm gesprungen. Ich war damals einfach so sauer, denn er hatte keine erkennbare Depression, auch eine mit uns befreundete Psychologin hatte nichts bemerkt“, sagt Vera Pfeil. Es ist ihr deshalb sehr wichtig, dass beim Wiederaufbau des Turms wieder schützende Netze eingebaut wurden, wie bereits 2014. Als ihr Mann damals sprang, gab es sie noch nicht. Ob sie seinen Suizid verhindert hätte? „Vielleicht wäre er woandershin gegangen, vielleicht auch nicht.“ Sie unterstützt sehr, dass solche Orte noch besser gesichert werden. Denn durch ein solches künstliches Hindernis kann der Suizidgedanke kurz unterbrochen werden. Sekunden, die Leben retten können. Denn viele Menschen, die Suizid begehen, wollen nicht sterben, aber können nicht weiterleben wie bisher, sagen Fachleute. Netze allein reichen nicht aus. Es braucht mehr Hilfsangebote.
Wochenlang habe ihr Mann über schlechten Schlaf geklagt. Dass er sich das Leben nehmen könnte, daran habe sie nie gedacht. Zu Trauer und Wut gesellte sich bei ihr aber schnell auch ein sehr starker Wunsch, sich nicht mit hinein in den Abwärtsstrudel reißen zu lassen. Der persönliche Austausch in der Gruppe gab ihr Halt. Sie begann sogar eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Eineinhalb Jahre später fand sie einen neuen Lebenspartner, verkaufte das Familiendomizil, so voll mit den gemeinsamen Erinnerungen. Pfeil weiß, dass das nicht allen Betroffenen gelingt. Bei vielen, die ihren Partner oder ihre Partnerin durch Suizid verlieren, sei das Vertrauen nachhaltig, bei manchen auf Dauer erschüttert.
Bei Evan hat es zehn Jahre gedauert, bis er wieder richtig Fuß gefasst hat. Erst jetzt beginnt er wieder, mehr an sich zu denken, der Sohn wird langsam erwachsen. Seit kurzem ist er wieder verliebt.
Spenden für das Projekt „F.A.Z.-Leser helfen“
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und die Frankfurter Allgemeine/Rhein-Main-Zeitung bitten um Spenden für die Stiftung „Starke Bande“, die Familien in schwierigen Lebenssituationen durch aufsuchende, individuelle Psychotherapie unterstützt, sowie für das Projekt „Lokale niederschwellige Krisenintervention in Frankfurt“ (LoKI) der Universitätsklinik Frankfurt, das Menschen mit Suizidabsichten hilft.
Spenden für das Projekt „F.A.Z.-Leser helfen“ bitte auf die Konten:
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