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Großstadt in der Corona-Krise : Ein anderes Leben, eine andere Stadt

  • -Aktualisiert am

Balkon-Ständchen: Musik ist in Zeiten der staatlich verordneten menschlichen Isolation ein Balsam für die Seele vieler. Bild: Wonge Bergmann

Corona hat eigenartige Konsequenzen: Man sieht Nachbarn wie in einem animierten Setzkasten, spürt menschliche Wärme und fühlt sich in der menschenleeren City dennoch unwohl.

          6 Min.

          Ausgerechnet in der Kapitale des „Imma weida“ wird derzeit alles und jedes ausgebremst. Plötzlich leben wir in einem Frankfurt, das wir so noch nicht kannten. Und wir machen die erstaunliche Erfahrung, dass sich gerade jetzt, wo alles zum Stillstand gekommen ist, vielleicht sogar mehr bewegt als sonst:

          393.200 Wohnungen gibt es in Frankfurt. Da stellte sich bislang 393.200 Mal die Frage: Wie lebt es sich hinter den Fassaden? Dank Corona kennen wir nun die Antworten: Nicht mal am Heiligen Abend sind so viele Fenster erleuchtet, sind so viele Menschen daheim. Ich sehe meine Nachbarn von gegenüber wie in einem animierten Setzkasten – je nach Familienstand – das Abendbrot zubereiten, vor dem Fernseher essen, die Kinder zu Bett bringen, auf dem Balkon eine rauchen.

          Fenster zum Hof

          Ein ziemlich schlecht einstudiertes Ballett: dieselben Abläufe, nur mit leichter zeitlicher Verschiebung. Alle tun so ziemlich das, was ihre Nachbarn auch tun. Das ist gleichzeitig ernüchternd, aber auch so tröstlich, wie es nur Routine sein kann. Dem Alter der Häuser – einem Neubaugebiet – und der Bewohner – ziemlich jung – angemessen modern. Aber natürlich sind nicht alle gleich. Ich sehe auf der Dachterrasse ein Paar, das selbst in luftiger Höhe noch einen Mundschutz trägt. An ein Fenster im vierten Stock haben Kinder ihre Zeichnungen so geklebt, dass man sie von außen betrachten kann. Mit beobachtender Teilhabe am Leben der anderen wird also gerechnet. Vielleicht hoffen wir ja auch, dass wir wenigstens so noch gesehen werden, wenn wir schon sonst niemanden treffen sollen.

          Seltsames Gefühl in einer Stadt, in der sonst wirklich alles und jederzeit zur Verfügung steht: darüber nachdenken zu müssen, wie man an Toilettenpapier, an Mehl oder Hefe kommt. So muss es wohl im Osten gewesen sein, denkt man sich: Keiner kann groß verreisen, und dauernd sieht man irgendwo Leute Schlange stehen. Wegen der Abstandsregelungen, aber auch, weil ein Laden plötzlich das haben soll, was bis eben noch allerorten ausverkauft war. Der Mann hinter mir in der Schlange vor Rewe kommt offenbar von „drüben“.

          Jedenfalls kennt er einschlägige Witze: „Im Lebensmittelladen: ,Hoben Se Schrippen?‘ ,Nä.‘ ,Hoben Se Wurst?‘ ,Nä.‘ ,Was hoben Se denn?‘ ,Durchgehend geöffnet.‘ ,Warum ’n dess?‘ ,Schloss is kaputt.‘“ Bei Rewe „haben Se“ heute so ziemlich alles. Bloß kein Toilettenpapier, das ich eh nicht brauche, aber auch nicht die Hefe, wegen der ich da war. Eine Freundin ruft an, sie hat welche ergattert. „Streng rationiert. Jeder durfte nur einen Würfel kaufen.“ Darüber sprechen wir jetzt, als wären wir im Erfurt der neunzehnhundertsiebziger Jahre. Ich ändere den Speiseplan auf „Pizza bestellen“. Auch das erweist sich als unmöglich. Es ist dauerbesetzt. Klar, im Moment sind alle etwas erschöpft von der dauernden Kocherei und sehnen sich nach kulinarischen Abkürzungen vom Lieferservice. „In welcher Stadt gibt es alles?“, hatte der Kerl bei Rewe hinter mir noch gefragt und hat über die Antwort „in Kürze“ wenigstens selbst sehr lachen müssen.

          Diese Stille

          Morgens wacht man auf und denkt: SONNTAG! Und zwar an jedem Tag in der Woche. Kaum Autoverkehr, kaum Fluglärm, keine Menschen auf den Straßen, keine Cafés oder Restaurants mit Außenbetrieb. Es herrscht diese unheimliche Ruhe, bei der meine Mutter früher von der Küche ins Kinderzimmer gerufen hätte: „Was immer es ist, hört sofort auf damit.“ Sonst macht Stadt ja vor allem Krach. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik erreicht Frankfurt auch damit Spitzenwerte und zählt zu den lautesten Städten der Republik. Da können je nach Wohnlage schon mal mehr als 70 dB (A) zusammenkommen.

          Auf Lärm reagiert der Körper mit Cortisol und anderen Stresshormonen und in der Folge dann mit zu hohem Blutdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass bei Straßenlärm, der im Haus einen Schallpegel von 65 Dezibel erreicht, das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen um ganze 20 Prozent höher ist als bei 50 bis 55 Dezibel. Möglich, dass wir ausgerechnet wegen einer scheußlichen Krankheit gerade sehr gesund leben. Jemand müsste allerdings den Vögeln einmal sagen, dass sie im Moment nicht mehr so zu schreien brauchen.

          Alles so schön leer

          Die Straßen, die Plätze – selbst auf der Zeil, wo sonst 11.246 Passanten je Stunde unterwegs sind –, alles leer. Mitten im Herzen der City ist so viel los wie an einem Sonntag auf dem Land. Von „Stadt“, also dem, was man sich darunter vorstellt und wie man es kennt – all das Menschengewusel, das Gerenne, die ganze Strebsamkeit –, kaum noch was übrig. Ein wenig erinnert es an den Kinderbuchklassiker „Die grüne Wolke“. Das 1938 erschienene Kinderbuch des schottischen Schriftstellers und Pädagogen Alexander Sutherland Neill, grandios übersetzt vom großartigen Harry Rowohlt, erschien 1971 mit Illustrationen von F. K. Waechter im Rowohlt Verlag. Es erzählt, wie eine grüne Wolke alle Menschen in Stein verwandelt – außer den Helden: einige Schüler, den Lehrer A. S. Neill und den „neunundneunzigfachen Millionär Pyecraft“. Letzterer hatte alle zu einer Ballonfahrt eingeladen, weshalb die Genannten überlebten. In dem Buch heißt es: „Ich finde es ja furchtbar traurig, dass die anderen so jämmerlich umgekommen sind, sagte Michael strahlend, aber es macht doch großen Spaß, allein auf der Welt zu sein.“ Ja, man kann sich sogar auf der Zeil wie der letzte Mensch auf dem Planeten fühlen. Und nein, es fühlt sich keinesfalls großartig an.

          So fern und doch so nah

          Letzte Woche hatte eine Freundin Geburtstag. Eine andere und ich trafen uns mittags vor dem Mietshaus, in dem das Geburtstagskind lebt. Wir klingelten, gaben über die Gegensprechanlage „Happy Birthday“ zum Besten und überreichten unser Geschenk mit dem gebotenen Abstand. Am Abend erzählte das Geburtstagskind per Whatsapp, dass seine Nachbarn ihm von den Balkonen aus auch ein Ständchen gebracht hätten, als es vom Einkaufen zurückgekommen sei. Sie hatten unseres gehört und wollten nun auch etwas beitragen. Man schaut den Nachbarn jetzt also nicht nur in die Wohnung, sondern auch ein bisschen ins Herz.

          Mancher der nun Zwangsentschleunigten blickt vielleicht überhaupt erstmals von seinem Alltagsgerödel auf und stellt fest, dass um ihn herum andere Menschen leben. Auch solche, die möglicherweise Hilfe brauchen. Als die Katze ausgerechnet mitten in Corona krank wurde und wir vor der Tierarztpraxis warteten („Bitte einzeln eintreten“), stand dort auch eine Seniorin mit einer jungen Frau in der Abendkälte. Die beiden kannten sich offenbar nicht. Sie waren einander von einer der Corona-Selbsthilfegruppen zugelost worden. Die junge Frau hatte den schweren Transportkorb der Katze getragen und wartete nun fast drei Stunden, um ihre Nachbarin und das Tier auch wieder nach Hause begleiten zu können. Ja, kann sein, dass Frankfurt gerade ein paar Grad wärmer geworden ist. Und nicht nur wegen der frühlingshaften Außentemperaturen.

          Gesundheits-Schub

          Gestern war ich gerade mal 700 Meter unterwegs, sagt die Tracking-App. Sie ist auch betrübt und erinnert mich ständig daran, dass ich früher – also vor Corona – täglich deutlich mehr unterwegs war. Aber wohin auch gehen, wenn alles geschlossen ist? Zum Ausgleich jogge ich nun jeden zweiten Tag im Park um die Ecke. Und ich nicht allein. Noch nie waren so viele Läufer dort unterwegs wie derzeit. Wo sonst soll man auch noch sporteln? Die Fitnesscenter haben geschlossen. Ebenso die Schwimmbäder und die Saunen. Immerhin: weit und breit keine dieser Aluschalengrill-Gruppen. Also auch deutlich weniger verkohlte Schwenksteaks, weniger Rauchschwaden, bessere Luft. Auch wegen des reduzierten Autoverkehrs. Auf dem Balkon gibt es längst nicht mehr so viel Feinstaub-Fallout von den Plastikmöbeln zu entfernen. Paradox, dass ausgerechnet eine auf Atemwege spezialisierte Krankheit nun für besseres Durchatmen sorgt und auch dafür, dass wir uns nun auch deshalb mehr draußen bewegen, weil wir eigentlich drinnen bleiben sollten.

          Lockerungsübungen

          Klar könnte man sich hübsch machen. Wenigstens für den kurzen Ausflug zum Supermarkt. Tun wir aber nicht. Wir haben gerade echt andere Sorgen. So sehen wir auch aus: Entspannt - wie ein ewiger Casual Friday. Kaum noch Business-Outfits. Für wen auch? Die meisten sehen im Homeoffice doch sowieso nur die Familie. Die kennt einen doch ohnehin im Jogginganzug oder in Jeans und Shirt. Man sieht den Frankfurtern an, dass sie nun vorwiegend daheim arbeiten und andere Probleme haben als ein laufstegtaugliches Outfit. Guckt ja niemand. Außer darauf, dass genug Abstand gehalten wird. Die Bikinifigur? Verschoben auf 2021. Wo keine Urlaubsreisen, da auch kein Strand, da auch kein Bikini und da auch keine Sorge, was die Sonne an den Tag bringen wird, wenn man sich erst mal entblättert hat. Wir machen uns locker. Vielleicht schauen wir uns ja auch längerfristig vor allem wieder ins nun endlich mundschutzfreie Gesicht, anstatt darauf, ob der BMI nun GNTM-tauglich ist.

          Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal meinte im 17. Jahrhundert: „Alles Unheil kommt von einer einzigen Ursache, dass die Menschen nicht in Ruhe in ihren Kammern sitzen können.“ Konnte er ja nicht ahnen, wie ihm Corona damit im dritten Jahrtausend recht geben würde. Ob wir allerdings glücklicher werden, wenn wir daheim bleiben? Im Park treffe ich die Nachbarn: Vater, Mutter, zwei Kinder. Sie wären jetzt eigentlich in Griechenland. Nun läuft es auf Osterferien in der Stadt hinaus. Und das ausgerechnet in Nachbarschaft des größten Flughafens Kontinental-Europas. Das fühlt sich an, als würde man mit einem Tretroller neben einem Porsche herfahren. Zumal all die Freizeitmöglichkeiten, die man dabei gewöhnlich bei Ferien daheim in Frankfurt in Anspruch nehmen würde, geschlossen sind.

          Ich habe meine Diplomarbeit über das Frankfurt der neunzehnhundertzwanziger Jahre geschrieben, über die Kindheit und Jugend in dieser Zeit. Zeitzeugen hatten mir erzählt, wie sie am Wochenende Ausflüge gemacht haben – Wanderungen mit ihren Eltern raus aus der Stadt ins Umland, mit Rucksack und Stullen. Welche Attraktion es überhaupt darstellte, dass die Eltern einmal freihatten und dass die ganze Familie an die frische Luft kam. Jetzt machen wir mit jedem Ausflug auch eine Zeitreise zurück in die Geschichte Frankfurts, in ein anderes Leben, eine andere Stadt.

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