F.A.Z-Leser helfen : In Sicherheit, aber in schwieriger Lage
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Svitlana Sements ist mit Tochter Anastasia vor dem Krieg aus Kiew geflohen. Bild: Frank Röth
Auf der Flucht vor dem Krieg ist eine ukrainische Mutter mit ihrem schwerkranken Kind nahe Frankfurt in einem kleinen Hotelzimmer untergekommen. Im Alltag muss improvisiert werden, viele Menschen helfen. Der Winter könnte dennoch hart werden.
Es ist ein friedlicher sonniger Vormittag im November. In einem Hotel nahe dem Frankfurter Flughafen hört Anastasia leise klassische Musik, die aus dem Handy ihrer Mutter Svitlana Sements tönt. Das Mädchen wirkt entspannt, zufrieden. Ihre Mutter lächelt sie an. Und erzählt vom Krieg.
Im März war die Mutter mit ihrer schwer beeinträchtigten Tochter aus der ukrainischen Hauptstadt geflohen. Bis dahin war ihre Wohnung im 9. Stock eines Hochhauses in Kiew ihre Festung: Dorthin kamen Freunde, die Großmutter oder der Vater des Kindes, um sich gemeinsam mit ihr um Anastasia zu kümmern. Svitlana Sements arbeitete als Ingenieurin, hatte ein gesichertes Umfeld. Nach den ersten russischen Angriffen änderte sich die Lage dramatisch.
Der 9. Stock wurde nun zur Falle, da der Aufzug nur noch stundenweise funktionierte. Doch bis zu dem Tag, als eine russische Rakete den Supermarkt neben ihrem Hochhaus komplett zerstörte, hätte Svitlana Sements die Ukraine wohl nicht verlassen. Ihre Mutter, 80 Jahre alt, und ihre Schwester, leben noch dort. Beide drängten Svitlana im März: „Verlass das Land, wenn du kannst“. Mithilfe der Klitschko-Stiftung kamen Mutter und Tochter im März mit mehr als hundert anderen Ukrainern in der Nähe von Frankfurt unter, in einem Hotel in Kelsterbach, das zunächst nur als Notfallunterkunft gedacht war. Lauter Familien mit lebensverkürzt erkrankten Kindern, von denen viele sterben werden, bevor sie erwachsen sind.
„Ich muss mich hochhalten“
Wenn Sements von den Schrecken des Krieges erzählt, von ihrer Flucht oder gar manchen missbilligenden Blicken auf ihr Kind, die sie in ihrer Heimat aushalten musste, bleibt ihre Stimme unerwartet gefasst. Wie ein ruhig dahinfließender Bach aus Sätzen und Beschreibungen, keinerlei Dramatik in der Stimme, die den Szenen, von denen sie spricht, absolut angemessen wäre.
„Mein Kind spürt meine Emotionen, daher versuche ich, bei allem, was ich erzähle, ruhig zu bleiben“, fügt sie erklärend hinzu. „Ich muss mich hochhalten, damit sie nicht abstürzt“, sagt sie mit Blick auf ihre Tochter.
Anastasia ist 15 Jahre alt. Sie ruht auf einem Liegestuhl, die Augen blicken ins Leere. Zerbrechlich wirkt sie, nur Haut und Knochen, 22 Kilogramm leicht. Und doch zu schwer, um sie täglich herumzutragen. Doch genau das muss ihre Mutter Svitlana jeden Tag tun, wenn sie die Tochter aus dem Bett hebt und in den Rollstuhl bugsiert, wenn sie sie anzieht, wäscht oder auf die Toilette setzt. Anastasia ist auf ständige Hilfe angewiesen, sie kann nicht sprechen oder laufen, sie kann keine Schule besuchen, nicht mit Freunden spielen, sich nicht selbst beschäftigen. Sie ist ein Pflegefall.
Als ihr Baby etwa drei Monate alt war, fiel Svitlana auf, dass ihr Kind auf nichts zu reagieren schien. Es folgten unzählige Besuche bei Ärzten, viele Untersuchungen, „alles, was in der Ukraine möglich war“, beschreibt die Mutter ihre Versuche, ihrem Kind zu helfen. Doch die Ergebnisse waren enttäuschend. Anastasias Zustand würde sich nicht wesentlich verändern, entschieden die Experten. Schlimmer noch, sie könne auf kein langes Leben hoffen. Epileptische Anfälle kamen hinzu. Als sie nach Deutschland kam, geschah das bis zu viermal am Tag, erzählt Sements. Nun sei die Tochter so gut medikamentös eingestellt, dass die gefürchteten Zuckungen den kleinen Körper nur noch einmal in der Woche durchrütteln.