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Comic : Deutsch-jüdische Geschichte anders erzählt

Miriam Werner und Moni Port erinnern sich an ihre Herkunft und blicken nach vorn: „Jüdische Gegenwart“ heißt ihre gemeinsame Comic-Collage für die Anthologie „Nächstes Jahr in“. Bild: Moni Port

„Nächstes Jahr in“ versammelt elf herausragende Comics und viele Informationen zu Stationen jüdischen Lebens in Deutschland. Dabei kann man viele unbekanntere Geschichten jüdischen Lebens kennenlernen.

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          Den Schinderhannes kennt man gerade noch so, aus dem Sachkundeunterricht der Grundschule vielleicht. In Hessen oder um Mainz herum wohl noch am meisten. Aber Abraham Picard? Nie gehört. Dabei war der jüdische Räuber, geboren 1772 in Gent und 1807 gestorben in der Haft in Marburg, zeitweise womöglich noch berühmter als der Schinderhannes. Und der hat Picard, den Strategen, bei gemeinsamen Raubzügen tüchtig übers Ohr gehauen. Wie, erzählt nun ein Comic der Berliner Künstlerin Tine Fetz. Er ist einer von elf Comics über Episoden jüdischer Geschichte in Deutschland, aber vor allem in Hessen und in Darmstadt, die der Ventil-Verlag nun unter dem Titel „Nächstes Jahr in“ veröffentlicht hat, in Anspielung auf den Satz „Nächstes Jahr in Jerusalem“, einer Wunschformel, die am Ende des Seder- abends ausgesprochen wird. Im Titel ist er unvollendet – denn von den Protagonisten jüdischen Lebens in Deutschland, die der Band beschreibt, sind die wenigsten nach Jerusalem gekommen. Und auch die Gegenwart spielt eine große Rolle in der Anthologie.

          Eva-Maria Magel
          Leitende Kulturredakteurin Rhein-Main-Zeitung.

          Auch Moni Port konnte sich nur noch dunkel an die Geschichten vom Schinderhannes und auch von den einst so bekannten jüdischen Räuberbanden in der Region erinnern, aus ihrer Schulzeit. Der Frankfurter Illustratorin aber ging es wie vielen der an der Sammlung Beteiligten – und wie es jetzt den Lesern gehen soll: Sie war über manche Episode überrascht, lernte Neues kennen. Hannah Brinkmann etwa erzählt die kurze und bemerkenswerte Geschichte der jüdischen Berufsfachschule Masada, die in Darmstadt 1947/48 junge jüdische Frauen und Männer in vor allem handwerklichen Berufen ausgebildet hat. Um dann den neuen Staat Israel buchstäblich mit eigenen Händen aufzubauen.

          Herausgeber: Im Team hat Jakob Hoffmann die Publikation betreut.
          Herausgeber: Im Team hat Jakob Hoffmann die Publikation betreut. : Bild: Frank Röth

          Das Gebäude und Spuren dieser kaum bekannten Schule seien kaum wiederzufinden, berichtet Jakob Hoffmann von der gemeinsamen Suche in Darmstadt. Sonst aber träten die jüdische Geschichte und das heutige jüdische Leben in Darmstadt in der Gegenwart und im Alltag zutage. Womöglich ein Grund, warum sich die Stadt in den Aktionen rund um das Jubiläum 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland besonders engagiert hat. Die Comic-Anthologie ist nun ein Projekt, das die Stadt und der Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main im Jubiläumsjahr finanziert haben, auch ein Dokumentarfilm ist entstanden.

          „Kein Kinderlied“ in Bildern

          Meike Heinigk, Leiterin der Centralstation, wo Hoffmann, der Gründer des Frankfurter Kindercomic-Festivals Yippie und Mitherausgeber des Kindercomic-Magazins Polle, schon öfter Comic-Lesungen veranstaltet hat, gab den Impuls zu der Anthologie, an der besonders viele hiesige Zeichnerinnen und Zeichner beteiligt sind. Heinigk ist, mit Hoffmann, der Darmstädter Autorin Antje Herden und Jonas Engelmann, nun Herausgeberin des Bandes. Der versammelt renommierte Zeichnerinnen und Zeichner, Barbara Yelin etwa hat „Kein Kinderlied“ von Mascha Kaléko in düstere, aufwühlende Bilder gefasst.

          Aus dem eigenen Leben geschöpft: Moni Port ist eine der Autorinnen.
          Aus dem eigenen Leben geschöpft: Moni Port ist eine der Autorinnen. : Bild: Wonge Bergmann

          Port empfindet es als Ehre, in diesem Kreis dabei zu sein. Der Auftrag hat sie dennoch ein wenig überrascht. „Ich komme eher von der Illustration, nicht vom klassischen Comic wie die anderen.“ Für den Mainzer Ventil-Verlag hatte sie aber vor kurzem schon einen Comic-Beitrag geschaffen, zu der Anthologie „Sie wollen uns erzählen“ nach Texten von Tocotronic. Herausgekommen aber ist nun etwas ganz anderes, eine künstlerische Collage.

          Was auch damit zu tun hat, dass die Künstler, wie Hoffmann sagt, alle Freiheit hatten. Im Stil, in der Länge, in der Wahl der Episoden. „Ich fand es toll, dass es keine inhaltlichen noch gestalterischen Vorgaben gegeben hat“, sagt Port, „das ist ungewöhnlich.“ Manche Autoren haben im Gespann gearbeitet wie der gebürtige Frankfurter Zeichner Tobi Dahmen, der nach einer textlichen Vorlage von Christian Lamp von der Gründung des berühmten Musiklabels Blue Note Records durch die beiden Berliner Juden Alfred Löw und Frank Wolff erzählt, die in den dreißiger Jahren nach New York emigrieren konnten. Die Darmstädterin Antje Herden und die Frankfurterin Marie Hübner wiederum haben eine eigene Geschichte ersonnen, sie erzählen die Begegnung eines Kriegsveteranen mit einer jungen nichtjüdischen Mutter, die ihrem Baby einen jüdischen Namen gegeben hat.

          Gegenwärtigen Figuren eine Stimme geben

          Die Mischung macht den Reiz des Bandes aus, dem man anmerkt, dass sehr persönlich miteinander gearbeitet worden ist. Allen Beiträgen gemein ist, dass auf die Seiten mit den zeichnerischen Erzählungen zwei bis vier Seiten mit Informationen folgen, zu den Biographien derer, von denen erzählt wird, zu geschichtlichen Zusammenhängen, zu Begriffen von Antisemitismus bis Zionismus, nicht belehrend, sondern anregend zum Weiterdenken.

          „Es liegt nahe, eine historische Figur zu erzählen. Aber ich wollte einer gegenwärtigen Figur eine Stimme geben“, sagt Port. Gefunden hat sie die in ihrem eigenen Freundeskreis: Miriam Werner, die beim Hessischen Rundfunk arbeitet, und sie sind seit 15 Jahren befreundet. Deren Beiträge, Familiengeschichte, Reflexionen über das eigene Leben in der Gegenwart und Fotos haben Port dazu angeregt, die ursprünglich geplanten Comicpanels fallenzulassen und eine freie Form zu finden.

          Es waren die Kinder, über die sich beide Frauen kennengelernt haben. Dass ihre Freundin aus einer jüdischen Familie kommt, wusste Port, ein großes Thema war das nie, es „schwebte“ so mit, auch sagt Port, im Wissen, dass auch diese Familie viele Mitglieder im Holocaust verloren hatte. Da beide viele Gemeinsamkeiten haben, bis dahin, dass sowohl Ports als auch Werners Großvater Weinhändler waren, gab es auch persönliche Anknüpfungspunkte, die es Port ermöglichte, ihre und die Geschichte der Freundin gewissermaßen zu verbinden. „Als ich Miriam bat, einen Text zu schreiben, hat sie sich erst gefragt, was sie zu sagen hat. Aber in dem kurzen knappen Text hat sie es auf den Punkt gebracht: Dass wir alle Menschen sind“, sagt Port.

          Nächstes Jahr in Comics und Episoden des jüdischen Lebens, Ventil Verlag, Mainz, 168 Seiten, 25 Euro.

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