Seit 40 Jahren unterwegs : Der letzte Wanderschäfer der Wetterau
- -Aktualisiert am
Hiergeblieben: Peter Link greift sich ein Schaf per Schäferschippe Bild: Rainer Wohlfahrt
Seit mehr als 40 Jahren zieht Peter Link mit seinen Schafen durch die Landschaft. Um eine Familie zu gründen, hat die Zeit nie gereicht. Mit seinem Leben ist er zufrieden.
Peter Link hat einen aussterbenden Beruf. Er ist Wanderschäfer. Egal, ob die Sonne scheint, es regnet, schneit oder stürmt – tagein, tagaus zieht der Dreiundsechzigjährige mit seiner Schafherde und den beiden Hütehunden Mohr und Lotte über die Wiesen rund um Nidda-Eichelsdorf im nördlichen Wetteraukreis an der Grenze zum Vogelsberg. Ein Knochenjob. Der Arbeitstag, und jeder Tag ist ein Arbeitstag, beginnt gegen 6.30 Uhr und endet nicht vor 20 Uhr. Blaumachen oder sich mit einem Schnupfen ins Bett legen, das ist nicht drin.
Mit 284 Schafen ist Peter Link an diesem Tag bei strahlender Sonne unterwegs. Warum er die Zahl so genau weiß? Zwar kennt er nicht jedes Tier mit Namen, aber er hat sie alle gezählt. Zeit dafür hat der drahtige Mann mit wettergegerbter Haut genug. Gestützt auf seinen langen Stab mit der Schäferschippe am unteren Ende beobachtet er, die Augen beschattet von einem braunen, abgegriffenen Hut, die Herde beim Grasen. Es gibt sogar Schäfer, die behaupten, sie könnten in dieser Position schlafen. Link, ein Mann mit vollem, grauem Haarschopf, hält das für ein Gerücht. Er kann es jedenfalls nicht.
Unverzichtbare Schäferschippe
Die Schäferschippe ist klein, aber wichtig. Das multifunktionale, unabdingbare Arbeitsgerät des Schäfers dient erstens zum Abstützen, zweitens als verlängerter Zeigefinger zum Dirigieren der Hunde, drittens zum Ausstechen von Unkraut quasi im Vorbeigehen und viertens zum Einfangen der Schafe. An der Schippe ist ein stumpfer Haken befestigt, mit dem der Schäfer dem Tier quasi ein Bein stellt und es festhält. Auf den ersten Blick mag das brutal aussehen, aber verletzt worden ist dabei noch nie ein Schaf.
Je nach Ergiebigkeit der Futterfläche legt Link mit seiner Herde zwei bis drei Kilometer am Tag zurück. Dabei verfolgt er keinen besonderen Plan, sondern entscheidet jeden Morgen spontan, wohin er zieht. „Die Schafe müssen zweimal am Tag satt werden“, erzählt er mit starkem mundartlichem Einschlag. „Gegen 14 Uhr legen sich die Tiere zum Wiederkäuen hin. Dafür benötigen sie zwei Stunden.“ Dann baut Link, der sich als Hüteschäfer bezeichnet, einen portablen Elektrozaun rund um die Herde auf, damit sie sich nicht zerstreut, fährt zum Hof und arbeitet auf dem Feld. Gegen 16 Uhr kehrt er zu einer zweiten Runde zu den Schafen zurück. Abends sperrt er sie in einer Koppel ein.
Vor Mohr, fünf Jahre alt, und Lotte, zwei Jahre alt, haben die Schafe Respekt. Die beiden altdeutschen Hütehund-Mischlinge wissen genau, was sie zu tun haben, um die Herde zusammenzuhalten oder in eine Richtung zu treiben. Auf Fingerzeig ihres Herrchen positionieren sie sich genau dort, wo er sie braucht. Nur mit Hilfe der Hunde kann ein einzelner Mann 284 Schafe hüten.
Auch ein paar Rhönschafe darunter
Insgesamt kümmert sich Peter Link um knapp 600 Schafe, meist Merinos, und um ein paar Rhönschafe. Außer den 284, mit denen er umherzieht, befinden sich noch 300 Tiere im Stall auf seinem Hof. Sie haben vor kurzem Nachwuchs bekommen; aber die Lämmer können noch nicht viel umherlaufen. Etwa 450 Schafe gehören Link selbst, die übrigen hütet er für Bauern im Ort, die ihm im Gegenzug bei seinem Getreideanbau helfen.
So idyllisch das Bild des Schäfers für Städter sein mag, so hart ist die Realität – vor allem die wirtschaftliche. Das erste finanzielle Standbein ist die Wolle. Doch wegen der Importe aus Übersee ist der Preisdruck immens. Selbst für hochwertige Wolle vom Merino-Schaf zahlt der Händler nur 90 Cent pro Kilo; jedes Tier liefert etwa drei Kilo. Da Link das Scheren an Fachleute vergibt, die je Schaf zwei Euro berechnen, bleibt am Ende kaum etwas übrig.
Zweites Standbein ist das Fleisch, vor allem das der Lämmer. Ein Schlachttier ist in der Regel 40 bis 45 Kilo schwer; der Händler zahlt 2,50 Euro pro Kilo Lebendgewicht. Link liefert rund 400 Lämmer im Jahr, einige behält er für die Zucht. Ältere Schafe verkauft er auch manchmal. Aber die bringen nur 30 bis 50 Euro.
Das dritte finanzielle Standbein ist die Landschaftspflege. Außer eigenen und hinzugepachteten Flächen beweidet der Wanderschäfer auch Land der Gemeinde, die Hutungen, und bewahrt es vor der Verbuschung. Dafür fließt Geld aus EU-, Bundes- und Landesprogrammen. Bei Verstößen gegen die zahlreichen Vorgaben bekommt er Abzüge. Das Veterinäramt kontrolliert unregelmäßig und unangemeldet den Zustand der Tiere.
Ein guter Bock kostet 1000 Euro
Drei Böcke sorgen in der Linkschen Herde für „Nachschub“. Sie haben viel zu tun, denn ein Mutterschaf kann im Durchschnitt dreimal in zwei Jahren trächtig werden. Um Inzucht zu vermeiden, werden die Herren der Schöpfung nach zwei Jahren ausgetauscht. Dann fährt Link zu einer landwirtschaftlichen Auktion nach Bayern. Für einen guten Bock muss er mehr als 1000 Euro auf den Tisch blättern.
Verbunden ist die Schäferei zusehends mit Bürokratie. Vieles ist nur noch online möglich. Da Link keinen Computer besitzt, hilft ihm der Bauernverband. „Die machen das zwar auch nicht umsonst. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie mir das Fell über die Ohren ziehen“, meint er.
Link ist Schäfer in vierter Generation. Sein Urgroßvater und sein Großvater waren als Gemeindeschäfer angestellt und hüteten die Schafe der Eichelsdorfer Bauern. Erst sein Vater machte sich selbständig. Als er vor 40 Jahren starb, übernahm der Sohn, der eine Metzgerlehre gemacht hatte, im Alter von 22 Jahren den Betrieb. „Das war, als hätte man mich ins kalte Wasser geworfen. Ich wusste nicht viel. Eine Ausbildung als Schäfer habe ich nie gemacht.“ Aber im Rückblick war das vielleicht nicht das Schlechteste. „Heute bin ich mein eigener Herr und jeden Tag in der Natur. Niemand macht mir Vorschriften“, sagt Link, der seinen Beruf eher als Berufung sieht. „In einer Fabrik würde ich mich eingesperrt fühlen. Da ginge ich kaputt.“
Der Schäfer ist zwar die meiste Zeit allein mit seinen Tieren, er ist aber auch passives Mitglied in allen Ortsvereinen. Von 1978 bis 2000 hat er mit einer Gruppe des Gesangvereins Theater gespielt. Die Stücke, meist Schwänke auf Platt, führte sie im Bürgerhaus auf, einmal sogar in der Festhalle in Schotten. Eine Ausnahme war „Der Schmied von Hohenwart“. Darin ging es ernst bis traurig zu, und es wurde hochdeutsch gesprochen. „Da haben die Weibsbilder im Publikum reihenweise die Taschentücher gezückt, um sich die Tränen abzuwischen“, erinnert sich der Laienschauspieler.
Peter Link ist „nicht unbedingt wunschlos glücklich, aber zufrieden“ – und mit sich selbst im Reinen. Auf die Frage nach Familie antwortet er: „Keine Frau, keine Kinder. Um jemanden kennenzulernen, hat die Zeit nicht gereicht.“ Dabei schwingt ein wenig Wehmut mit. Link ist der Letzte seiner Art in weitem Umkreis. Wenn er stirbt, führt niemand sein Lebenswerk fort.