Ein Kinderdorf und die Krise : „Wir stehen das gemeinsam durch“
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Unbeschwert: Rakan und Seila rutschen auf der Seilbahn durchs Kinderdorf. Bild: Marcus Kaufhold
Das Bethanien Kinder- und Jugenddorf im Rheingau meistert die Corona-Krise bisher gut und hat sogar zwei weitere Außengruppen eröffnet.
Rakan ist ein schlaksiger junger Mann. Der Sechzehnjährige macht einen nachdenklichen Eindruck, den die kleine runde Brille verstärkt. Er steht inmitten grüner Weinberge vor dem Panorama des Rheintals auf dem Spielplatz des Bethanien Kinder- und Jugenddorfs, das zwischen Kiedrich und Erbach liegt. Leise sagt er, dass die Corona-Pandemie für ihn eine schwere Zeit bedeute, aber man sein Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfe. Für einen Jugendlichen hört sich das sehr erwachsen an. „Ich bin froh, dass ich hier im Kinderdorf sein kann, das ist wie eine Familie für mich“, sagt Rakan, der vor einigen Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen ist. Seine Familie lebe in der Türkei, berichtet er weiter und stockt. Dann fährt er leise fort, blickt zu Boden und sagt, dass seine Mutter gestorben sei. „Das hier ist meine zweite Familie“, sagt er mit fester Stimme und hebt den Blick.
Dass Rakan eine neue Familie gefunden hat und es ihm gutgeht, verdankt er unter anderem Susanne Lange. Sie ist eine sogenannte Kinderdorfmutter und der junge Iraker ein Mitglied ihrer achtköpfigen Kinderdorffamilie. Die 51 Jahre alte Pädagogin strahlt muntere Gelassenheit aus und steht entspannt auf dem Spielplatz, während um sie herum Kinder klettern, toben und spielen. Ein blonder Junge schlägt auf dem Trampolin einen Salto rückwärts. Andere Eltern hätten vielleicht ein besorgtes „Pass auf“ gerufen, für Lange ist das kein Thema. 23 Jahre Berufserfahrung prägen. Sie wohnt gemeinsam mit den Kindern in einer familiären Lebensgemeinschaft und hat dafür gesorgt, dass die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie von ihren Schützlingen möglichst gut verkraftet wurden. Im Bethanien Kinderdorf galt bis heute ein Besuchs- und Betretungsverbot, Kontakte zu Eltern waren spärlich, und auch in die Schulen können die Kinder noch immer nicht wie zuvor gehen. „Die Kinder sind da super mit umgegangen“, blickt sie auf die vergangenen Wochen zurück. Ermöglicht haben das vor allem die Mitarbeiter, die im Dorf blieben. Die Kinder sollten immer einen Ansprechpartner haben. Da die Kinder in einer häuslichen Gemeinschaft leben, waren besondere Abstandsregelungen innerhalb der Gruppen nicht nötig: „Hätten wir beim Essen Abstandsregeln eingeführt, wären die Kinder eher verunsichert worden.“
Vorbereitung auf ein eigenständiges Leben
In den Bethanien Kinder- und Jugenddörfern geht es um das Gegenteil. Die etwa 140 Mitarbeiter im Team von Leiter Thomas Kunz wollen den rund 100 Kindern Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Die Einrichtung im Rheingau, zu der neben fünf Wohngruppen im Dorf drei Außenwohngruppen in Erbach, Oestrich-Winkel und Fischbach gehören, ist eines von drei Bethanien Kinderdörfern. Die beiden anderen liegen in Schwalmtal und in Bergisch-Gladbach. Träger der Einrichtungen ist die Kinderdörfer GmbH, die ihren Sitz in Schwalmtal hat. Der Orden der Dominikanerinnen von Bethanien hatte die Dörfer in den fünfziger und sechziger Jahren gegründet und fungiert heute als Gesellschafter. Die Kinder bekommen in den Wohngruppen ein familienähnliches Zuhause geboten und werden in Trainingswohnungen auf ein eigenständiges Leben vorbereitet, wenn sie 18 Jahre alt geworden sind.
Auf dem Spielplatz fühlen sich die Kinder wohl. Berfin und Joel klettern auf dem Holzturm herum, sie genießen das frühsommerliche Wetter. „Man hat Corona gar nicht so gemerkt, denn wir können immer noch draußen spielen“, sagt die 13 Jahre alte Berfin, und Joel ergänzt: „Wir haben ja auch noch immer die meisten unserer Freunde hier.“ Die Kinder des Eltviller Dorfes besuchen die umliegenden Schulen im Rheingau. Im Dorf selbst gibt es eine Krippe mit 40 Plätzen, die derzeit jedoch nur eine Notbetreuung anbietet.
„Ein gutes Zuhause“ für die Kinder schaffen
Die Krise bedeute für die Betreuer eine immense Herausforderung, sagt Kinderdorf-Sprecherin Christina Bergold. So organisiert Pädagogin Lange den Heimunterricht für die Kinder und versucht, nicht den Überblick zu verlieren, wann welches Kind an welchen Tagen wieder in die Schule darf. „Hier hängen überall Zettel. Wir sind ein lebender Kalender“, sagt Lange und lacht. Wenn es um die Startchancen ihrer Schützlinge geht, wird sie aber schnell wieder ernst. Gerade einmal 250 Euro für ein Laptop habe das Jugendamt ihr für einen Jungen zugesagt. „Es gibt aber kein Laptop für 250 Euro, das billigste kostet 330 Euro“, sagt Lange und fügt an: „Einer muss die 80 Euro drauflegen.“
„Die Kinder haben ein gutes Zuhause hier“, erzählt Bergold und berichtet, dass es immer mehr Anfragen von Jugendämtern aus Frankfurt, Offenbach, Wiesbaden und Mainz nach einem Platz in Eltville gibt. Aus diesem Grund hat das Kinderdorf vor kurzem zwei weitere Außenwohngruppen im Hunsrück eröffnet. Eine der Wohngruppen befindet sich auf dem kleinen abgelegenen Bauernhof Taubenmühle in Külz bei Simmern. Dort leben Kinder, die besonders intensiv betreut werden müssen. Viele kommen aus Familien, in denen sie vernachlässigt wurden oder sogar Gewalt und Missbrauch ausgesetzt waren. Das reguläre Hilfenetz der stationären Jugendhilfe könne diese Kinder oft nicht mehr auffangen.
Rakan steht noch immer auf dem Spielplatz und schaut seinen Kinderdorf-Geschwistern beim Klettern zu. „Ich glaube, nach der Corona-Krise achten viele Menschen mehr auf ihre Familie und ihre Freunde“, sagt er. Im Kinderdorf fühlt er sich wohl. „Ich bin froh, dass ich hier bin. Die Leute akzeptieren mich so, wie ich bin. Religion und Herkunft sind hier egal“, berichtet er. Rakan ist nicht der einzige minderjährige Flüchtling im Dorf, wie Lange erzählt. Ein anderer junger Mann, teilt sie stolz mit, verlasse bald das Dorf und beginne ein Physikstudium. Und es gab noch eine gute Nachricht am Freitag: Von heute an darf das Kinderdorf schrittweise wieder öffnen.