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Ausstellung zum Holocaust : Keiner kennt den Namen Mengele

Perspektivwechsel: Rafael Herlichs Bilder eröffnen den Ausstellungsbesuchern neue Einblicke in das Judentum. Bild: Rainer Wohlfahrt

Der jüdische Fotograf Rafael Herlich führt junge Muslime durch seine Ausstellung. Was bedeutet die deutsche Geschichte für Migrantenkinder?

          3 Min.

          Acht jüdische Religionsschüler in schwarzen Anzügen und mit Hüten blicken auf den Schriftzug „Arbeit macht frei“, der über dem Eingang des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz hängt. Rafael Herlich hat sie von hinten fotografiert. Auf diese Weise, erklärt der jüdische Fotograf einer Gruppe muslimischer Jugendlicher, stünden sie stellvertretend für das polnische Judentum, das die Nazis nicht vernichten konnten. Erst im Nachhinein sei ihm bewusst geworden, dass er sie auch deshalb von hinten fotografiert habe, weil es sich so auch um seine im Lager ermordete polnische Familie hätte handeln können. Die Religionsschüler stehen somit für all die Tanten und Onkel, die er nie kennengelernt hat und die er trotzdem vermisst. Deshalb heißt seine Ausstellung „Sehnsucht“.

          Leonie Feuerbach
          Redakteurin in der Politik.

          „Diese Sehnsucht habe ich auch gefühlt“, sagt Macide Tekin nach der Führung durch die Heussenstamm-Galerie. Tekin lebt in Frankfurt und ist Mitglied der Ditib-Gemeinde in Höchst. Die 24 Jahre alte Frau studiert Immobilienmanagement in Wiesbaden. Sie trägt einen rot und rosa geblümten Schal, das lange dunkle Haar offen. Monotheistische Religionen interessierten sie seit ihrer Kindheit, sagt sie. In Kirchen und Synagogen habe sie sich Predigten angehört und nach Gemeinsamkeiten mit ihrer Religion gesucht.

          Muslimen den Holocaust nahebringen

          Zusammen mit einem Dutzend weiterer muslimischer Jugendlicher hat sich Tekin am Samstag vom Fotografen Herlich durch seine Ausstellung führen lassen. Seit Jahren kennt Herlich Selçuk Dogruer, den Landesbeauftragter der türkischen Ditib, des größten muslimischen Dachverbands in Deutschland. Gemeinsam haben sie beschlossen, muslimische Jugendliche auf diese Weise den Holocaust nahezubringen.

          Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hat Bundespräsident Joachim Gauck in einer Rede gesagt, es gebe keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Einige fragten sich, was das für Menschen aus Zuwandererfamilien bedeutet: Sie sind deutsch, doch ist Auschwitz Teil ihrer Identität? Sie sind weder mit den Tätern noch mit den Opfern von damals verwandt. Und die Muslime unter ihnen identifizieren sich zum Teil eher mit den Opfern des Palästina-Konflikts.

          „Ich muss mich damit auseinandersetzen“

          Mustafa Ayanoglus Eltern kamen als Kleinkinder aus der Türkei nach Deutschland; weder sie noch seine Großeltern haben das Nazi- und das Nachkriegsdeutschland gekannt. Ayanoglu ist 26 Jahre alt und besucht den Masterstudiengang Islamische Studien. „Natürlich ist es etwas anderes, sich als Kind von Migranten mit diesem Teil der Geschichte zu befassen“, sagt er. „Aber ich bin hier geboren und aufgewachsen und muss mich deshalb auch mit diesem Thema auseinandersetzen.“ Einige Muslime neigten zu pauschalen Urteilen über Israelis, kritisiert Ayanoglu. Etwa die jungen Demonstranten, die während des Gazakriegs auf der Zeil „Israel Kindermörder“ und Schlimmeres riefen.

          Diese Demonstrationen thematisiert auch Fotograf Herlich in seiner Führung. Dass „Jude“ heute wieder ein Schimpfwort in deutschen Klassenzimmern sei, erschüttere ihn, sagt er während des Rundgangs durch die Galerie. Am Anfang der Ausstellung hängen Bilder heutigen jüdischen Lebens in Polen: Ein kleiner Junge schmiegt sich an eine Thorarolle aus Stoff schmiegt wie an ein Kuscheltier; eine Familie leitet mit dem Kiddusch genannten Segensspruch über einem Becher Wein den Schabbat ein. Weiter hinten und im ersten Stock der Galerie finden sich Fotografien, die das Gedenken thematisieren: etwa das Bild einer jungen Frau, die auf das Konzentrationslager Majdanek blickt.

          „Dass er erst die Gegenwart gezeigt hat und dann die Vergangenheit, das war sehr berührend“, sagt Meryem Tinç. Die Dreiundzwanzigjährige strebt einen Masterabschluss in Religionswissenschaften an. Nach dem Bachelor in Islamischen Studien wollte sie ihr Wissen über andere Religionen vertiefen und ihre eigene Religion kritisch von außen betrachten. Sie trägt ein weißes Kopftuch und eine Brille mit schwarzem Rahmen. Ihre Mutter ist Deutsche, ihre Großeltern sind im Krieg aufgewachsen. Insofern habe sie einen anderen Bezug zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte als die anderen jungen Muslime im Raum.

          Sie alle aber haben gemein, dass sie sich trotz des Prüfungsstresses zum Semesterende die Zeit nehmen, eine Galerie zu besuchen. Mit den Demonstranten, die antisemitische Parolen auf der Zeil riefen, verbindet sie nichts. Sind sie also die falsche Zielgruppe für diese Veranstaltung? Nicht unbedingt. Tekins Freundin Ezgi Taskiran wird als Lehrerin vielleicht einmal Klassen unterrichten, in denen „Jude“ als Schimpfwort gebraucht wird. Und obwohl sie alle den Holocaust mehrmals in der Schule durchgenommen haben, nickt niemand, als Herlich fragt, ob sie Josef Mengele kennen. In Polen ist keiner von ihnen bisher gewesen. Und Ayanoglu sagt zum Schluss: „Mit der Schule waren wir nie im Museum oder im KZ. Deshalb war das jetzt eine sehr gute Erfahrung.“

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