Open Ohr Festival in Mainz : Aufputschmittel für eine dösende Gesellschaft
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Freundliche Belagerung: Erstmals in seiner langen Geschichte ist das Mainzer Musikfestival am Samstag ausverkauft. Bild: Setzer, Claus
Schon zum 40. Mal fand das Open Ohr Festival in Mainz statt. Und es gibt keine Anzeichen von Müdigkeit - aber eine Warnung vor Ortswechsel und Professionalisierung.
Das hat es in den vergangenen vier Jahrzehnten noch nicht gegeben: Beim 40. Open Ohr Festival an Pfingsten mussten schon am Samstagnachmittag Besucher abgewiesen werden, weil der Ansturm auf die Mainzer Zitadelle diesmal derart groß gewesen ist, dass das aus Sicherheitsgründen nur für 9.300 Gäste freigegebene Festungsgelände aus allen Nähten zu platzen drohte. Und so wurden draußen an den Kassenhäuschen schon früh die „Ausverkauft“-Schilder angebracht, derweil man drinnen im Kleinen Zelt noch selbstkritisch darüber diskutierte, ob sich die Menschen in einer „ermüdeten und vor sich hin dösenden Gesellschaft“ denn überhaupt noch mit einer Veranstaltung dieses Formats erreichen ließen, wie es der Journalist Thomas Leif bewusst provokativ formulierte.
Wofür sich das ehemalige Mitglied der für das Festivalprogramm verantwortlichen Freien Projektgruppe von Bürgermeister Günter Beck (Die Grünen) sogleich ein „Ach, Thomas, du bist altersfrustriert“ gefallen lassen musste. Dass früher vieles anders, manches gut, aber längst nicht alles besser gewesen sei, gehörte zu den zentralen Erkenntnissen bei der Rückschau „auf Deutschlands ältestes und bis heute einzigartiges Jugend- und Kulturfestival“, wie Nora Weisbrod sagte. Sie gehört zu dem aktuell zehn Mitglieder zählenden Gestalterkreis, der nicht nur die an vier Tagen auf den Bühnen zu erlebenden Musikgruppen, Kabarettisten und Theaterensembles nach Mainz geholt, sondern mit dem diesjährigen Motto „Maikäfer flieg“ zudem die inhaltliche Ausrichtung vorgegeben hat. Wobei die alle paar Jahre wiederkehrende Auseinandersetzung mit „Krieg und Frieden“ ja leider ein zeitloses Thema sei.
Rund 300.000 Euro für das Festival
Die Arbeit der Freien Projektgruppe, in der Ehrenamtliche tatsächlich nahezu frei von politischer Kontrolle entscheiden könnten, und die Unterstützung durch das städtische Jugendamt, das vor allem für Organisation und Logistik verantwortlich sei, bezeichnete Jugenddezernent Kurt Merkator (SPD) als Schlüssel zum Erfolg. Was Leif bei der Podiumsdiskussion über „40 Jahre Open Ohr“ ganz ähnlich umschrieben hatte: „Es ist die gelungene Mischung zwischen städtischer Bürokratie und Anarchie.“ Dabei warnte Merkator die Organisatoren vor zweierlei: „Lasst die Finger von Professionalisierung, und bleibt auch in Zukunft in der Zitadelle.“ Weil der seit nunmehr 38 Jahren als Austragungsort genutzte Freiraum viel mit dem Geist der Veranstaltung zu tun habe. „Es ist das schönste Familientreffen in der Republik, auch wenn dabei bisweilen heftig gestritten wird“, fügte Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) hinzu. Allein die Tatsache, dass fast die komplette Rathausspitze bei dem viertägigen Festival, für das die Stadt jedes Jahr eine Ausfallbürgschaft übernimmt, vorbeischaute, durften die finanziell vor allem vom Land Rheinland-Pfalz und dem Open-Ohr-Förderverein unterstützten Programm-Macher als Bestätigung ihrer Arbeit werten. Rund 300.000 Euro, zum 40. Geburtstag war es ein klein wenig mehr, stehen jährlich für das viertägige Ereignis zur Verfügung; wobei unter anderem wegen der enormen Sicherheitsauflagen nur ein Drittel des Etats für die Gagen der Künstler und Referenten bleibt.
Ein Mainzer Mehrgenerationentreffen
Warum überhaupt so viele Menschen aller Altersgruppen an Pfingsten gerne und notfalls gar bei Regen auf der Hauptwiese liegen und rund um den Drususstein sitzen, ist ebenso wenig erforscht wie die Frage, weshalb das Kabarettzelt selbst weit nach Mitternacht und bei größter Hitze meist voll besetzt ist. Früher waren die Namen der Künstler klangvoller, die Honorare aber auch geringer: So dass dereinst die Toten Hosen, Klaus Lage, Ina Deter, Hanns Dieter Hüsch und Hannes Wader an Pfingsten in Mainz auf der Bühne standen. Heutzutage sind es Gruppen wie die norwegische Band „Kakkmaddafakka“ sowie die Reggae, Ska, Punk und Rap zelebrierenden Musiker von „Irie Révoltés“, die sich oft genug erst einmal in die Ohren zumindest der älteren Festival-Besucher spielen müssen. Dabei zählt der einzelne Auftritt ohnehin nicht allzu viel, weil das aus vielen Facetten bestehende Festival als Gesamtkunstwerk zu verstehen ist. Eines, das, wie Ebling sagte, „alle gemeinsam und die Gesellschaft bewegen soll“. Warum das beim Mainzer Mehrgenerationentreffen allen politischen Anfeindungen, wirtschaftlichen Krisen und zeitweiligem Zuschauerschwund zum Trotz über vier Jahrzehnte immer wieder gelungen ist, lässt sich nicht so einfach erklären: Der eine kommt, weil er beim ersten Open Ohr Festival seine Frau kennengelernt habe, mit der er bis heute glücklich sei.
Die andere sagt, dass sie vor mehr als 30 Jahren an Pfingsten geboren und ihre gesamte Kindheit sowie Jugend über jedes Jahr wieder vier Tage auf dem Zitadellengelände verbracht habe. Derweil sich die jüngsten Besucher erkennbar dabei amüsieren, ungeachtet des um Frieden werbenden Festivalmottos Wasserbomben gegen die Hitze zu werfen und sich beim Spiel mit Wasserpistolen kennenzulernen.