Die Kunst des Wartens
Von ALVA GEHRMANN · 17. Februar 2021Sie steckten jahrelang auf engstem Raum fest und segelten ins Ungewisse – können wir gerade von den norwegischen Polarreisenden lernen? Zu Besuch in Roald Amundsens Wohnhaus, das nun digital zugänglich ist.
Wer die weiß-graue Villa am Ufer des schmalen Bunnefjord betritt, fühlt sich sofort in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt. Es riecht nach alten Kisten, im Flur liegt ein Schlitten und im Wohnzimmer bedecken dicke Teppiche den Raum mit der eleganten, aber durchgesessenen Sofagarnitur. An diesem Wintertag ist es drinnen kälter als draußen. Roald Amundsen hätte es sicherlich nicht gestört, er war von seinen Polarexpeditionen ganz anderes gewohnt. Wir stehen im Haus jenes Norwegers, der als Erster die Nordwestpassage durchquerte, 1911 den Südpol erreichte und später den Nordpol überflog. Rekorde wie diese machten Amundsen zum internationalen Star.
20 Jahre lang bereitete er in Svartskog außerhalb von Oslo seine abenteuerlichen Reisen vor. „Wir haben die Villa bewusst so erhalten, wie Amundsen sie hinterließ, als er 1928 zu seiner letzten Expedition aufbrach“, sagt Anders Bache. Der Archäologe führt uns durch das Haus, das inzwischen ein Museum ist. Im Wohnzimmer entdeckt der Besucher zahlreiche Erinnerungsstücke von Amundsens Reisen. Zum Beispiel „Fridtjof“, einen ausgestopften Kanarienvogel, auf dem Klavier. Er segelte ebenso wie das Klavier ab 1910 an Bord der Fram in die Antarktis. Das Vögelchen schaffte es lebendig in den Süden, verstarb aber bei der Heimkehr. Benannt wurde es nach Amundsens Mentor und Landsmann Fridtjof Nansen, der das Forschungsschiff einst bauen ließ.
Das Gezwitscher und gelegentliche Klavierspiel waren eine willkommene Abwechslung an Bord der Fram – Amundsen und seine Crew lebten über zwei Jahre zusammen. Wer sich damals auf Expeditionen begab, brauchte neben Mut und Ausdauer vor allem die Fähigkeit, auf engem Raum ausharren zu können. Selbst wenn die Forschungsarbeit einen Teil des Tages strukturierte, gab es viele Zeiten des Leerlaufs und der Ungewissheit. Wäre ihnen die aktuelle Pandemie vielleicht nicht so schwergefallen? „In gewisser Weise ja, denn Einsamkeit und langes Warten waren Anfang des 20. Jahrhunderts noch üblicher“, sagt der Polarexperte Bache. „Reisen war mit einem größeren Zeitaufwand und mit mehr Isolation verbunden.“
Doch selbst erfahrene Seemänner kamen manchmal an ihre Grenzen. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie das isolierte Leben den gesunden, vernünftigen Geist angreifen kann. Ein Jahr ist für eine Person spürbar“, sagte Amundsen mal und führte fort: „Was passiert mit den vielen, die Jahr für Jahr isoliert sind? Ohne es zu wissen, schrumpft ihr Gehirn auf ein Minimum, und dann beurteilen sie einander und ihre Beziehungen weiterhin mit dem kleinen Stück Gehirn, das ihnen übrig geblieben ist.“
Das klingt in Corona-Zeiten recht vertraut. Der Norweger kannte etliche Tricks gegen Trägheit und Langeweile: So nutzte er jede Gelegenheit, ausgelassene Feste zu feiern – seien es die Geburtstage der Crew-Mitglieder, Nationalfeiertage oder die Geburtstage der Liebsten in der Heimat. Außerdem durften sie Urlaub machen. Ein weiteres Mittel war die strikte tägliche Routine, die auch Fridtjof Nansen auf seinen früheren Expeditionen anordnete. Während der Fram-Expedition von 1893 bis 1896, deren Ziel es war, den geographischen Nordpol mit Hilfe der natürlichen Eisdrift im Arktischen Ozean zu erreichen, musste die Crew täglich zwei Stunden Ski fahren.
Beliebte Freizeitaktivitäten waren Kartenspiele, Halma und Darts. Die zwölfköpfige Crew von Nansen brachte sogar eine Zeitschrift heraus, die vor allem Gedichte, Zeichnungen und soziale Debatten beinhaltete. Einer notierte in seinem Tagebuch, dass die Publikation „Framsjaa“ vermutlich bald sterben werde, wenn sich der Wunsch nach Sarkasmus erschöpft habe. Immerhin reichte er für acht Ausgaben.
Nansen konnte ein strenger, autoritärer Chef sein, seine sanfte Seite offenbarte er in den Liebesbriefen an seine Frau Eva. Im Winter 1895 verließen Nansen und sein Heizer die im Eis eingefrorene Fram, um mit Hundeschlitten und Skiern dem Nordpol näher zu kommen. Der Norweger verfasste eine Nachricht, die im schlimmsten Fall sein Abschiedsbrief gewesen wäre. Darin fragt er seine Frau und sich, wie es zusammenpasse, dass er sie „so sehr liebe“ und dennoch auf diese Reise gehe. Sein Erklärungsversuch: „Eine höhere Macht, über die ich selbst keine Gewalt habe, hat mich angezogen, ein Sog, stärker als ich selbst.“
Anders Bache und die norwegische Journalistin Sigri Sandberg haben diese und andere Liebesgeschichten von Abenteurern im mare-Buch „Polarliebe“ zusammengetragen. „Eva musste drei Jahre auf ein Lebenszeichen ihres Mannes warten“, erzählt Bache. Vielleicht tröstet es aktuell einige getrennt Lebende, dass sie zumindest via Telefon, Mail, SMS oder Video miteinander verbunden sind.
Ab 1918 segelte Amundsen mit Maud, dem ersten Forschungsschiff, das er bauen ließ, gen Norden. Bei der ersten Überwinterung verletzte er sich gleich mehrfach. Zuerst stürzte er unglücklich auf seine Schulter, dann wurde er von einem Eisbären angegriffen und dabei am Rücken verletzt, und im Dezember desselben Jahres vergiftete er sich bei wissenschaftlichen Arbeiten mit Kohlenmonoxid. Er beklagte sich im Tagebuch und machte weiter. Für Ablenkung sorgte neben regelmäßigen Partys die mit Hunderten Büchern bestückte Bibliothek im Salon. Und 1922, nachdem Amundsen und seine Crew bis auf wenige Unterbrechungen immer noch fast durchgehend im Eis feststeckten, half ihm zur Aufmunterung ein schnelles Marschlied, das von einem Iren erzählt, der sich im Ausland nach seiner Freundin in Tipperary sehnt: „It’s a long way to Tipperary / It’s a long way to go / It’s a long way to Tipperary? / To the sweetest girl I know!“, ertönte es an Bord der Maud aus dem Grammophon. Heute steht es in Amundsens Wohnzimmer neben der Sofagarnitur. Das verzierte Holzgehäuse schnitzte ein Crew-Mitglied. Noch exotischer ist die Uhr aus Walross- und Mammutstoßzähnen, die der Pilot an Bord anfertigte.
Durch die Pandemie ist das Haus derzeit geschlossen. Doch Bache und sein Team nutzten die vergangenen Monate: Sie haben das Museum digitalisiert. Der 36-Jährige führt auf seinem Smartphone die kostenlose App vor, mit der sich jeder bis in den letzten Winkel der Räume zoomen kann und in Begleittexten mehr über einzelne Exponate erfährt. Wir laufen nun in die erste Etage und betreten das Arbeitszimmer mit dem großen Schreibtisch, in der App kann der User sogar in einer der Schubladen stöbern. Bache holt eine kleine Platzkarte hervor, auf der handschriftlich „Captain Amundsen“ steht, darüber ist eine für damalige Verhältnisse lasziv gekleidete Frau abgebildet. „Wir wissen nicht, zu welcher Party er eingeladen war“, sagt Bache und lächelt. Der Archäologe freut sich über jeden Gegenstand, den sie entdecken. „Derzeit schaue ich mir Amundsens Bibliothek genau an“, sagt er, zieht weiße Handschuhe an und blättert behutsam in Jack Londons „Ruf der Wildnis“, das der Abenteurer mit „Roald“ markierte.
An einer Seitenwand des Büros hängt ein signiertes Porträt von Nansen, dominiert wird der Raum aber von der riesigen Antarktis-Landkarte, davor hockt auf dem Boden Marie. Während der Maud-Expedition versuchte Amundsen ein Eisbärjunges, das er Marie nannte, zu zähmen. Irgendwann musste er einsehen, dass es ihm nicht gelang. Also erschoss er das Tier und ließ es später ausstopfen. Bache erzählt so begeistert und detailreich, dass der Nationalheld und sein Alltag lebendig werden. Er bewundert dessen Leistungen, weiß aber zugleich um dessen Schlitzohrigkeit. Das belegt er anhand eines berühmten Porträts: Es zeigt Amundsen auf Skiern und in Pelz gehüllt, wie er vermeintlich in der Antarktis steht. „Tatsächlich ist dieses Foto im Winter vor dieser Haustür aufgenommen worden“, sagt Bache und zeigt aus dem Fenster. „Die gegenüberliegende Halbinsel Nesodden wurde einfach wegretuschiert.“ Da die Technik damals noch nicht so ausgereift war und man vor Ort nur wenige Fotos machen konnte, entstanden einige Aufnahmen erst nachträglich. „Dieses Porträt ist nur eines von vielen Beispielen, das verdeutlicht, wie wichtig die Fotografie beim Aufbau einer Heldenlegende war. Das kommerzielle Produkt ‚Roald Amundsen‘ wollte eben gut promotet werden.“ Sein Geld verdiente der Norweger durch Bücher und internationale Vortragsreisen. Je berühmter er war, desto leichter konnte er für die nächsten Expeditionen finanzielle Unterstützung gewinnen.
Wir gehen in den nächsten Raum, in dem es wie im Krankenhaus riecht. Das liegt an der Truhe, die rund 100 ordentlich numerierte Döschen mit Ampullen und Tabletten enthält – alles, was ein Medizinschrank seinerzeit hergab: von Arsen über Chloroform und Opium bis hin zu Zink. „Eigentlich sollte diese Medizinkiste mit auf die Maud-Expedition, doch sie blieb zurück.“ Der Grund dafür ist unbekannt. „Amundsen wollte keinen Arzt an Bord haben, weil Mediziner seiner Erfahrung nach so eine lange Zeit des Nichtstuns für gefährliche Experimente nutzten und so mancher von ihnen opiumsüchtig wurde.“
Das Ende der Tour führt durch die privaten Gemächer. Vom Ankleidezimmer mit der geblümten Tapete aus geht links das Schlafzimmer ab. In den ursprünglich fensterlosen Raum, der fast komplett vom Bett ausgefüllt wird, ließ der Weltreisende zwei Bullaugen einbauen. So konnte er sich selbst zu Hause wie auf hoher See fühlen und sich auf die nächste lange Zeit der Einsamkeit einstimmen.
Auf virtuelle Tour mit Amundsen
Digitales MuseumAuf der Museums-Website findet man die weiterführenden Links zur kostenlosen App und zur Virtual-Reality-Experience samt Videos, Ton- und 3D-Aufnahmen des Hauses
Die Fram
steht heute im nach ihr benannten Museum. Online gibt es zahlreiche Infos zu den berühmten Expeditionen und den Polarreisenden.
Die Maud
wurde rund 100 Jahre nach Amundsens Reise im Stile einer modernen Expedition von Kanada nach Norwegen zurückgebracht: maudreturnshome.no
Literatur
Sigri Sandberg, Anders Bache: „Polarliebe“. Übersetzt von Karoline Hippe, mare, 208 Seiten, 28 Euro

ist Autorin von „ I did it Norway! – Die Entdeckung der nordischen Lebensart“ (dtv).
Darin begleitet sie u.a. die Rückkehr von Amundsens Schiff Maud nach 100 Jahren.
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 17.02.2021 12:54 Uhr
