Fotograf Wolf Böwig : Wahrhaftig sein, Auge in Auge
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Kämpfer der Oromo Liberation Front. Ogaden, Äthiopien 1999 Bild: Wolf Boewig
Wolf Böwig ist Fotograf, Kriegsreporter, Weltreisender. Er hat die grausamsten Orte der Erde gesehen, aber auch ihre schönsten und geheimnisvollsten Winkel. In seinen Tagebüchern hingegen findet er zu sich.
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Es regnete den ganzen Tag. Nichts war zu hören außer einer Frau, die weinte, betete oder „nein, nicht!“ flehte im Haus neben unserem heruntergekommenen Hotel, dem Dokone, das einst Florida geheißen hatte, bevor der Krieg die alten Viertel von Mamba Point in Monrovia verwüstete.
Aus einem meiner Tagebücher: „12. November 2003. Kein Licht. Wolf liegt auf dem Bett. Er denkt nach. Die Frau weint nicht mehr, seit ich ,Hör auf!‘ in die Dunkelheit und den Regen gerufen habe – an den Mann gerichtet, der seine Frau mit einem Gürtel oder einer Peitsche schlug. Wolf setzt sich auf. Er beginnt, sich zu erinnern: ,Die Nordallianz startete eine Offensive gegen ein unter der Kontrolle von Taliban stehendes Gebiet, die aber nicht mit deren Regime verbunden waren. Es kam zu einer absonderlichen militärischen Allianz zwischen damaligen Feinden. General Dostums Streitkräfte stürmten die Region, darunter auch das Dorf, aus dem mein Dolmetscher kam. Alles wurde zerstört. Als wir das Dorf erreichten, sah mein Dolmetscher nach seinem Haus. Dostums Leute hatten seine gesamte Familie getötet. Mein Dolmetscher hatte sechs Kinder. Von einem neugeborenen bis hin zu erwachsenen, wie Orgelpfeifen. Als wir ins Dorf kamen, konnte man immer noch erkennen, wo Dostums Leute die Köpfe der Kinder zerschmettert hatten. Ein Fleck ... Es sah so aus, als hätten sie die Opfer an den Fußgelenken gepackt oder so ähnlich, denn an den Beinen der Säuglinge waren immer noch die bläulichen Abdrücke von Händen zu sehen. Die Köpfe ... Einfach so. Junge Schädel sind weich. Ich ging in eines der Häuser, und da lag die Leiche eines Mädchens. Ich konnte nicht genau erkennen, was mit ihr geschehen war, denn ihr Kleid war hochgezogen und bedeckte ihren Kopf. Ich meine die Stelle, wo ihr Kopf sein musste. Mein Dolmetscher schrie auf. Er schrie und schrie und schrie. Ich ging hinaus und hob die Hände: Wie? Wie? ... Es war Winter. Der Winter 2001. Alles war gefroren. Ich versuchte, ein Grab für die Kinder des Dolmetschers auszuheben. Es gelang mir nicht. Alles war gefroren. Drei Tage lang blieb ich mit ihm dort.’“
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Am 23. Juli 1939 schrieb Gandhi einen Brief an einen Mann, der „unter allen Menschen allein in der Lage“ sei, „einen Krieg zu verhindern, der die Menschheit in den Zustand der Barbarei zurückwerfen würde“. Dieser Mann war Adolf Hitler. „Wollen Sie nicht auf einen Menschen hören, der nicht ohne beachtlichen Erfolg die Methode des Krieges immer abgelehnt hat?“ Welche Antwort Gandhi auch erhalten haben mag, wenn denn überhaupt eine, die Geschichte zeigt in eindrucksvoller Weise, was für Gandhi zur Ursache für größten Schmerz und fast schon einen psychischen Zusammenbruch wurde: die Erfahrung seiner eigenen Ohnmacht angesichts der Massenschlächterei. (Einige Monate später schrieb er einen zweiten Brief an Hitler.) Rabindranath Tagore, mit dem Gandhi eine tiefe wechselseitige Bewunderung und Zuneigung teilte, erkannte in dessen gewaltlosem Widerstand eine „wilde Freude an der Vernichtung“.
Gandhi hatte keine Angst vor dem Tod und bewahrte sich diese geistige Verachtung bis in seine allerletzten Augenblicke, als ein schicksalhaftes gewaltsames Ende seines Lebens immer wahrscheinlicher wurde in den Wochen vor seiner Ermordung durch einen Hindu-Extremisten am 30. Januar 1948. Der Ausbruch religiös und ethnisch begründeter Gewalt im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit und Teilung Indiens verstärkte noch Gandhis Melancholie in den letzten Monaten seines Lebens. Die Große Seele wanderte durch die Dörfer Bengalens und Bihars, seine blutenden Füße liefen über schmale, mit dem Blut von Hindus und Muslimen getränkte Pfade, und seine demonstrative Gewaltlosigkeit stieß auf wachsende Feindseligkeit. Einmal spuckte ihm ein Muslim ins Gesicht. Gandhi ging weiter. Jeden Morgen brach er erneut auf, wanderte von Dorf zu Dorf, und oft sang er dabei Tagores Lied: