Was schert uns der Gegenwind
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Geschichte der Architektur im Schnelldurchlauf: Marina von Vlissingen Bild: Moment/Getty Images
Früher war hier Meer: Durchs Polderland von Deich zu Deich und Windmühle zu Windmühle – mit E-Bikes unterwegs in Zeeland.
Die Farbe des Himmels über Zeeland ist von einem blassen Graublau. So zumindest haben Wissenschaftler den durchschnittlichen Farbton ermittelt, um die Farbe der neuen Strommasten möglichst unauffällig dem weiten Himmel anzugleichen. In zartem Blassblau überragen sie nun wie Tannenbäume das flache Land und bringen Starkstrom von den Windparks der Nordsee in die Industriezentren des Landesinneren. Weiß drehen sich die Flügel der Windräder über dem Meer. Bunt wie Legobaukästen gleiten riesige Containerschiffe durch die breite Flussmündung Richtung Gent und Antwerpen. Lotsenboote, klein wie Seemücken, leiten die Schiffsungetüme an Untiefen und Sandbänken der Schelde vorbei. Wer ein Fernglas zur Hand hat, kann bei Ebbe in der Mündung schwarze Punkte sehen, Robben, die sich ungerührt vom Verkehr auf den Sandbänken tummeln. Gemächlich dreht sich eine alte Mühle auf dem Deich. Kilometerlang ziehen sich Strände mit feinem, weißem Sand unterhalb des Deichs entlang. Sie gehen allmählich in eine Dünenlandschaft über, die charakteristisch für die Inselspitze zwischen Domburg und Vlissingen ist, ein natürlicher Schutzwall gegen das Meer.
Meerblick mit Bitterballen und Bier
Weite Dünen, weiße Strände, Sand und Meer. Kaum einer zwischen Rhein und Ruhr, der nicht schon einen Sommertag in Zeeland verbracht hat. Seit in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Autobahn vom Festland über Bergen op Zoom nach Vlissingen gebaut wurde, zieht es Jahr für Jahr Millionen deutsche Urlauber hierher. Dennoch gibt es keine Bettenburgen wie an der benachbarten belgischen Nordseeküste. Vielmehr ducken sich alte Kaufmannsstädte, Bauernhöfe und Feriensiedlungen hinter den Deichen. Nur einzelne Apartmenthäuser an der Promenade von Vlissingen schauen mit ihren gläsernen Fensterfronten aufs Meer hinaus. Das wäre heute verboten, erklärt Marcel van der Borgt, ein jung gebliebener ehemaliger Erdkundelehrer, mit dem wir die Insel besuchen. Zeeland setze auf einen nachhaltigen Tourismus, sagt er.
Wir sitzen vor dem alten Wachturm von Vlissingen, bei Bitterballen und Bier, und schauen übers Meer in den weiten Himmel, der heute gar nicht durchschnittsgraublau ist, sondern tiefblau leuchtet. Nur der kalte Wind, der über die Deiche bläst, erinnert uns daran, dass wir an der Nordsee sind, und wir sind froh, geschützt hinter einer Glasscheibe zu sitzen. Marcel hat einen Stapel historischer Karten dabei, um uns zu zeigen, wie das Land im Meer, wie Zeeland übersetzt heißt, Jahrhundert um Jahrhundert seine Gestalt veränderte.
Die einzigen Berge sind die Deiche
Einst bestand Zeeland, die westlichste Provinz der Niederlande, aus unzähligen Inseln, viele von ihnen nur sandige Erhebungen im weiten Mündungsdelta der Schelde. Das Land gehörte den Grafen von Flandern und Holland. Handelsschiffe verkehrten zwischen England und den aufstrebenden Städten Antwerpen und Gent. Die Inselbewohner schützten ihr Land mit Dämmen aus aufeinandergeschichteten Grasnarben gegen das Meer. Die ersten Ringdörfer entstanden. In ihrer Mitte eine Backsteinkirche mit hohen gotischen Fenstern und nadelspitzem Kirchturm. Daneben ein Löschteich, der zugleich als Viehtränke diente, drum herum wuchsen kreisförmig Bauern- und Handwerkerhäuser aus rotem Ziegelstein. Nisse in Zuid-Beveland ist solch ein Dorf. Es hat bis heute seine ursprüngliche Gestalt bewahrt. Dort wartet Marcel van der Borgt am nächsten Tag auf uns. Er hat sich vorgenommen, uns ein Stück unbekanntes Zeeland zu zeigen. Zu Fuß und per Fiets – das sind keine nostalgischen Hollandräder, sondern moderne E-Bikes, mit denen wir ihm in den nächsten Tagen durch Naturschutzgebiete, Küstenwege und verwunschene Dörfer folgen.