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Corona-Ausbruch in Ischgl : Einen Instinkt fürs Tier

Ischgl: Feiern bis der Arzt kommt. Bild: Lois Hechenblaikner

Warum das Coronavirus ausgerechnet in Ischgl perfekte Bedingungen vorfand, zeigen die Bilder des Fotografen Lois Hechenblaikner. Ein Interview mit dem Kronzeugen des institutionalisierten Wahnsinns.

          4 Min.

          Als „fotografischer Thomas Bernhard“ wurde der Tiroler Lois Hechenblaikner immer wieder mal bezeichnet, einer, der dahin geht, wo es weh tut und schonungslos mit seiner Kamera draufhält. 26 Jahre lang hat er in seiner Heimat den Après-Ski-Exzess fotografiert. Das Fotobuch „Ischgl“ zeigt nun das abgründige wie abstoßende Ergebnis. Und wer die Bilder sieht, versteht schnell, warum sich das Corona-Virus von Ischgl aus nach ganz Europa verbreiten konnte.

          Andreas Lesti
          Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          War Corona die Strafe für die sündhaften Skifahrer?

          Jaja, das ist schon so. Ein Freund von mir hat Ischgl mal als die Partnergemeinde von Sodom und Gomorra bezeichnet. Aber nach dem Corona-Ausbruch taten alle so, als könnten sie nix dafür. Das ist dann der alpine Scheinkatholizismus.

          Wird es in Ischgl jemals wieder Après-Ski geben?

          Ich glaube, so nicht mehr. Es muss jetzt einen kathartischen Reinigungsprozess geben. Ich habe immer gesagt: Ihr bezahlt einen Preis dafür, es gibt eine Gegenrechnung, so ist das Leben. Und jetzt habe sie diese. Aber sie wollen letztendlich doch in ihrem Muster bleiben, weil den vollen Umfang des Schmerzes kennen sie noch gar nicht.

          Wieso ist gerade Ischgl so ein Ort der Extreme?

          Der ganze Ort funktioniert wie ein Hirnnebel. Es geht nur darum, den Menschen außer sich zu bringen, das steckt schon im Slogan ,Relax if you can’. Und an dem Punkt, an dem die Enthemmtheit kippt, und wo man eigentlich sagen müsste, nein, es reicht jetzt, da kommen in Ischgl ganz gezielt Brandbeschleuniger dazu. So kommt es zu dieser Verwilderung, diesem Vulgarismus, dieser Nivellierung nach unten.

          Welche Beschleuniger meinen Sie?

          Getränke als promillisierte Brandbeschleuniger, Tabledancerinnen als Hormonbeschleunigerinnen und dann die Musik. Was die Musik ausmacht, das hat mich fasziniert. Wie man die Leute mit Musik auf einer unbewussten Ebene steuern kann. Schon allein für die akustische Beleidigung meines Gehöraparats müsste ich den Wirten eine riesige Rechnung schicken. Dazu kommt, dass ich keinen Alkohol trinke.

          Wie haben Sie das so lange ausgehalten?

          Ich bin wie ein Taucher ohne Sauerstoffgerät, eine gewisse Zeit halte ich es aus, dann muss ich gehen. Ich habe auch meine Grenzen. Aber ich wollte es festhalten als ein ganz wichtiges Zeitdokument. Doch manchmal frage ich mich schon: Warum habe ich es so lange gemacht? Aber ich war auch in St. Anton, Sölden, Kitzbühel und im Zillertal. In Ischgl hat es sich jetzt einfach ergeben, Bilanz zu ziehen.

          Wie unterscheidet sich Ischgl von den anderen Après-Ski-Orten, an denen es ja auch wild zugeht?

          In Ischgl gibt es die meisten Après-Ski-Lokale und die meisten Wirte haben einen bäuerlichen Hintergrund. Das heißt, sie haben einen Instinkt fürs Tier. Und der Instinkt des Viehhändlers ist das Rezept für Après-Ski. In Ischgl kommt noch wesentlich die Raffinesse des Schmugglers dazu. Da wurde früher ganz viel in die Schweiz hinüber geschmuggelt. Die Wirte sind ganz pfiffige und fleißige Leute. Die Ischgler sind für mich die Hochland-Gallier.

          Aber die Gäste lassen sich auch gerne verführen.

          Es gibt einen Komplizen, und das ist der Gast. Deswegen habe ich immer versucht, den genetischen Code vom Après-Ski zu knacken. Was ist es? Die Leute zahlen ein Schweinegeld, und dann diese Musik. Aber ich habe noch nie einen Wirt erlebt, der die Gäste mit der Peitsche hineintreibt, das passiert auf Freiwilligkeit. Der Bankomat an der Talstation in Ischgl hatte übrigens lange Jahre die zweithöchste Entnahmefrequenz von ganz Österreich.

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