Wandern vor der Haustüre : Dem Virus davonlaufen
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Allein auf dem Rheinsteig: „Ich kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann“, hat Kierkegaard gesagt. Bild: Stefan Nink
Wandern gegen das Getöse im Kopf: Der Rheinsteig ist dieser Tage so ruhig wie selten – und tut dem nachrichtengeplagten Zeitgenossen umso wohler.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich das Handy im Auto lassen sollte, aber bei längeren Wanderungen weiß man ja nie, also packte ich es in den Rucksack, ganz nach unten. Ich wollte keine Anrufe, zumindest für ein paar Stunden. Keine Eilmeldungen, keine Katwarn-Alarme und vor allem keinen Live-Ticker.
In den letzten Tagen war der ständige Blick auf den zur einer Art Sucht geworden. Da erfuhr ich dann Dinge wie „32 Neuinfizierte auf Tasmanien“ oder „Bolivianischer Sportminister positiv getestet“. Zehn Minuten später schaute ich erneut nach, ob in der Zwischenzeit möglicherweise etwas Wichtigeres passiert sei. Ich war dabei immer hibbeliger geworden, und unkonzentrierter und dünnhäutiger. Du musst mal raus, hatte ich zu mir selbst gesagt. Geh mal wandern. Geh mal wieder auf den Rheinsteig.
Für den Fall, dass den jemand nicht kennt: Der Rheinsteig ist eine etwa dreihundert Kilometer lange Route, die in 21 Etappen von Wiesbaden nach Bonn führt. Beide Städte liegen bekanntermaßen am Rhein, auf manchen Abschnitten aber verläuft der Rheinsteig derart weit weg vom Fluss, dass seine Bezeichnung nur noch mit viel Phantasie gerechtfertigt ist.
Auf meiner Lieblingsetappe ist das anders: Auf den 21 Kilometern zwischen Kaub und St.Goarshausen klammert sich der Weg über lange Passagen an die Abbruchkante jenes Plateaus, in dessen Gestein sich der Rhein vor zwölf Millionen Jahren gegraben hat. Wenn man auf dieser Etappe unterwegs ist, hat man den Fluss oft tief unter sich.
Kein Güterzugrattern, kein Verkehrslärm
Zum ersten Mal sieht man ihn nach zwanzig Minuten, wenn man die Anhöhe über Kaub geschafft hat: ein platt gehämmertes Band aus Anthrazit, zerschnitten von Lastkähnen und Frachtern. Die Scherenschnitt-Silhouette auf der Insel mitten im Rhein ist Pfalzgrafenstein, eine Zollburg, die früher verhindern sollte, dass sich Schiffe ohne Abgabe an Kaub vorbei mogelten. Drüben, auf der anderen Rheinseite, wirkt der Wald im milchigen Licht der Morgensonne beinahe unwirklich. Und Bacharach mit seiner Burg Stahleck sieht aus, als habe sie ein mittelalterlicher Maler mit sehr wässrigen Farben in den Hang skizziert und sei dann in eine Mittagspause verschwunden, die bis heute andauert. Es ist eines dieser Panoramen, bei denen man sich am liebsten gleich hinsetzen würde, zu den Eidechsen, auf eine dieser sonnenwarmen Trockenmauern. Hinsetzen, runterschauen und in die Stille lauschen.
Das nämlich war anders als sonst, und das fiel sofort auf: Es war viel ruhiger. Normalerweise wirkt das enge Mittelrheintal wie ein Trichter; wenn man auf dem Rheinsteig unterwegs ist, quillt eine kontinuierliche Geräuschmelange aus Güterzugrattern, dem Verkehr auf der B42 und den Lautsprecheransagen der Ausflugsdampfer hinauf, und wenn ein midlifekriselnder Harley-Fahrer drüben am anderen Ufer ruckartig Gas gibt, klingt das auf dem Rheinsteig wie ein Presslufthammer. Von all dem war dieses Mal nichts zu hören. Stattdessen zwitscherte sich eine Lerche irgendwo über mir die Kehle aus dem Hals. Ansonsten war es still. So still, dass man den Hummeln dabei zuhören konnte, wie sie den ersten blühenden Klee zwischen den Rieslingreben inspizierten.
Hinter Kaub ist der Rheinsteig gleich ein richtiger Steig, schmal, steil, bei jedem Schritt bröckeln kleine Steinchen unter den Sohlen weg. Links geht es in einem Winkel in die Tiefe, der sich an manchen Stellen redlich bemüht, die neunzig Grad zu erreichen – wenn man nicht wüsste, dass die schätzungsweise 5779 Rebstöcke da unten sehr gute Abfangeigenschaften haben, würde einem mulmig. Dann verschwindet der Weg in einem Wald aus knorrigen Eichen, und dann ist man oben auf dem Plateau, und man kann bis in alle Ewigkeit in die Hügelketten des Hunsrücks sehen.
Der Himmel war blank geschrubbt wie schon die Tage zuvor, keine Wolke, nirgends, und auch kein anderes menschliches Wesen. Oben auf der Dörscheider Höhe fällt der Weg ganz sanft ab, und wenn der Wind von hinten kommt, schwebt man mehr, als man geht. Irgendwann lief ich wie von selbst. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass ich „Chocolate Jesus“ von Tom Waits sang. Das hatte ich eine Ewigkeit nicht mehr gemacht.
Wildschweine, Schmetterlinge und Vogelstimmen
Schon in normalen Zeiten gilt Wandern ja als so ziemlich das beste Therapeutikum, das man sich vorstellen kann. Es wirkt gegen Bluthochdruck und Gefäßverengung, es hilft bei Diabetes und Schlafproblemen und dem Eingerostetsein im Allgemeinen, und selbstverständlich ist es auch bei Depressionen hilfreich. „Ich kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann“, hat Kierkegaard gesagt. Da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht auch gegen dieses ununterbrochene Getöse im Kopf helfen würde, das dieses vermaledeite Virus in diesen Tagen anrichtet.
Über die Rosssteinfelsen, vorbei an den Steinen einer alten Burg, hinunter ins Urbachtal, auf der anderen Seite wieder hinauf und hinter den Weinbergen hoch über dem Fluss weiter Richtung Loreley: Immer noch niemand außer mir. Ein Reh, ganz nah; drei, vier Wildschweine, weit weg. Zwischendurch immer wieder Schmetterlinge. Vogelstimmen, Spechtgehämmer, Rascheln im Laub. Und überall knospende Bäume und blühende Sträucher und dieser ganze frühlingshafte Optimismus einer Natur, der es völlig egal ist, dass sich die Spezies Homo sapiens gerade mit einem verbreitungsfrohen Vertreter aus der Familie der Coronaviridae herumschlägt. Das mag erschreckend naiv klingen, aber: Ich fand das einen beruhigenden Gedanken.
Die ersten – und einzigen – anderen Wanderer kamen mir dann kurz vor St.Goarshausen entgegen, hinter der Burg Katz, wo der Rheinsteig steil hinunter ins Tal führt. Instinktiv wichen wir nach rechts aus, die beiden auf ihrer Seite, ich auf meiner, und dieses kurze social distancing genügte für die Rückkehr in die Normalität. Als ich zehn Minuten später in der Sonne am Rheinufer saß, überlegte ich sofort, ob ich das Handy aus dem Rucksack holen sollte.
Ich ließ es drin.
Erst einmal.