Nicaragua : Die Dreifaltigkeit des Compañero Comandante
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Aussichtspunkt mit doppeltem Atlas: Der Kathedrale von León kann man aufs Dach steigen - und wird für diesen Frevel auch noch mit einem phantastischen Blick belohnt. Bild: Cristina Candel
Nicaragua klebt der Ruf seiner blutigen Vergangenheit wie Pech an den Haaren. Doch wer das Land besucht, wird Wunder sehen und erleben - sofern man den Schwefelkuss der Mutter-Erde-Göttin schadlos übersteht.
Nein, sie werden nicht sagen, wie viele sie getötet haben. Darüber spricht man nicht, das ist man den Toten schuldig, von denen es viel zu viele gab auf beiden Seiten. Juan José Sánchez und Ricardo López haben überlebt, vierzehn Jahre Krieg und Konterrevolution der eine, dreizehn der andere. Jetzt schlagen sie nichts und niemanden mehr tot außer der Zeit, die sie als Wächter, Führer und lebendige Ausstellungsstücke im Museum der glorreichen sandinistischen Revolution am Hauptplatz der nicaraguanischen Heldenstadt León verbringen. Manchmal fällt ihnen dabei die Decke auf den Kopf, und zwar wortwörtlich, weil ihr Museum eine Bruchbude und das Obergeschoss wegen Baufälligkeit geschlossen ist. Genauso patinös sind die verrosteten Waffen und verblassten Fotos von Freiheitskämpfern, Revolutionsmärtyrern und Tyrannentötern an den Schimmelfleckenwänden, heroische Reliquien eines ebenso rührenden wie hohlen Pathos in Schwarzweiß.
Schwarz und weiß ist auch die Weltsicht von Sánchez und López. Daniel Ortega, einst Chef der Guerrilla und derzeit zum dritten Mal Präsident Nicaraguas, ist ihr Held für alle Zeiten, der „Máximo Líder“ und „Compañero Comandante“, Ikone der Revolution, Albtraum der Yankees, Befreier der Unterjochten, der Mann, der seinem Volk das Glück der Gerechtigkeit und das Privileg eines Lebens in Sicherheit geschenkt hat. „Da draußen“, sagt Juan José Sánchez und zeigt mit großer Geste hinaus auf den Hauptplatz, „da laufen keine Verbrecher herum, die Leute abknallen, und auch keine schwerbewaffneten Soldaten, sondern Familien mit Kindern und Touristen ohne Angst. So viel Frieden gibt es sonst nirgendwo in Mittelamerika und so viel Gleichheit und Brüderlichkeit erst recht nicht.“
Knutschen unter dem Glühbirnenheiligenschein
Dann rückt er sich mit triumphierendem Lächeln seine Levi’s-Baseballmütze in militärischen Tarnfarben zurecht, deren Herkunft aus dem imperialistischen Schurkenstaat ihn nicht im Geringsten bekümmert, und fragt uns in Plauderlaune, woher wir kämen. Aus Deutschland also. Aus der DDR oder der BRD? Wie, das sei jetzt alles eins? Ach so, wegen der Perestrojka, ja, davon habe er schon einmal gehört, und von Gorbatschow, diesem Kriegsverbrecher, und da war doch etwas mit der Berliner Mauer, auch weg, na so was! Und dann wünschen uns die netten, etwas gelangweilten, aber kein bisschen fanatischen Herren Sánchez und López noch einen schönen Tag in ihrem schönen Land.
In León erfüllen sich solche Wünsche wie von selbst. Denn die Stadt ist nicht nur eine koloniale Schatzkiste voller Kirchen mit klassizistischen Prunkfassaden und Konvente mit neuem Leben als Luxushotels, voller Plätze mit schmiedeeisernen Pavillons und Bürgerhäuser mit löwenbekrönten Sandsteinportalen. Sie nimmt uns auch so freundlich, so fürsorglich auf, dass wir uns zwischen lauter Studenten und Rucksackreisenden tatsächlich sicher wie im Mutterschoß fühlen - sogar spätabends auf dem Hauptplatz, wenn dort die letzten Eisverkäufer mit ihren Wägelchen klingelnd den Liebespaaren das Feld zum Knutschen überlassen, mildtätig beschienen vom Glühbirnenheiligenschein der Muttergottes hoch oben an der Kathedrale.