Auf der Suche nach dem Winter
Text und Fotos von ANDREA DIENER20. Februar 2020 · Was tun bei Sehnsucht nach Eis, Schnee und Finsternis? Ein Urlaub in einem Dorf am nördlichen Baikalsee schafft Abhilfe.
Eine Datsche am Nordende des Baikalsees bekommt man, wenn man jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt. Ich kenne Nadine, die kennt Marina, die kam irgendwie auf Sascha, und die Datsche gehört seiner Tante. Die Tante wohnt dort nur im Sommer. Dass wir im Winter herkommen, konnte niemand verstehen, den wir trafen, es sei im Sommer doch viel schöner am See. Ach was, Sommer, sagten wir, Sommer haben wir in Deutschland selbst und viel zu viel davon. Aber Winter haben wir keinen und Schnee nicht und keine Schollen, die sich auftürmen, wenn das Eis auf dem See wieder einmal rumpelt und arbeitet und sich unter unseren Füßen grollend zusammenschiebt, was sich anhört wie ein kleines Erdbeben.
Mir leuchtete sofort ein, einen Winterurlaub in Sibirien zu verbringen. Ich komme gerne mit, sagte ich, gleich Feuer und Flamme, denn in Europa gibt es Schnee leider nur noch als Unterlage für Wintersport oder in sehr abgelegenen Gegenden. Die Après-Ski-Vergnügungen und die Infrastruktur, die mit dem Wintersport einhergehen, schreckten mich ab. Ich wollte einfach nur ein bisschen Schnee haben und klirrende Kälte und Eiszapfen und all das, die Romantik ohne den Sport, also fuhr ich mit nach Sibirien, in ein abgelegenes Dorf am Nordende des Baikalsees namens Baikalskoje. Es liegt auf einem Plateau über dem Ufer, neben einem zugefrorenen Fluss, auf dem ab und zu die Kühe spazierengehen, und umgeben von Lärchenwäldern voller schlafender Bären und dem weißverschneiten Baikalgebirge.
Wie zu allen wirklich interessanten Zielen ist man nach Baikalskoje ziemlich lange unterwegs. Wir landeten morgens in Irkutsk, dann fuhren wir in Marinas kleines Holzhaus, tranken selbstgebrannten Wodka aus der Wasserflasche, aßen Blinis und schamanisierten. Schamanisieren ist wichtig, sagte Marina, denn wir seien hier alle nur Gäste in diesem Land der Burjaten. Also tunkten wir den linken Ringfinger in den Wodka und schnippten feucht nach oben, nach unten, nach links, nach rechts für alle Götter und Geister des Baikalsees. Dann stiegen wir kurz vor Mitternacht in den Zug, der von Irkutsk nach Severobaikalsk fährt.
Eine Nacht und einen halben Tag lang fuhren wir auf der Trasse der Transsibirischen Eisenbahn nach Westen bis Taischet, etwa siebenhundert Kilometer. Dann wurde die Lok ans andere Zugende gehängt, und wir fuhren einen halben Tag und eine Nacht auf der Baikal-Amur-Magistrale nach Nordosten. Wir saßen bei einer Raumtemperatur zwischen 25 und 28 Grad in unserem Abteil, tranken Tee und starrten in die dünn besiedelte Landschaft. Lärchen, Birken, weiße, verschneite Steppe und ab und zu irgendein Kraftwerk. Am Morgen des zweiten Tages erhoben sich erste Berge, dann waren wir in Severobaikalsk, draußen waren etwa zwanzig Grad unter Null, und die Sonne schien.
In der Markthalle im Zentrum von Severobaikalsk kauften wir ein paar Lebensmittel auf Vorrat, dann hatten wir noch etwa eine Stunde Autofahrt vor uns. Zweimal am Tag fährt ein Bus nach Baikalskoje, morgens und abends, man kann auch ein Taxi durch die Taiga nehmen, das kostet ungefähr fünfzehn Euro. Nach der Hälfte der Fahrt lichtete sich der dick verschneite Wald aus niedrig gewachsenen Lärchen, und die Straße streifte das Seeufer. Der Fahrer hielt, denn der See will begrüßt sein. Bunte Fahnen flatterten an einer Stupa, Stoffstreifen hingen an einem Strauch, hier wurde schon kräftig schamanisiert. Der Fahrer spendete den Geistern eine Münze, wir schauten auf die weißverschneite Fläche des Sees, als hätten wir seit Jahren keinen Schnee mehr gesehen. Haben wir auch nicht, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.
Wenn man erzählt, dass man seinen Winterurlaub in Sibirien zu verbringen gedenkt, erntet man äußerst irritierte Blicke. Viele Mitteleuropäer haben mittlerweile eine völlig irrationale Angst vor dem Winter, weil sie den grauen Naßzustand, den sie aus ihren Städten kennen, mit einem richtigen Winter verwechseln. Sie haben Angst vor der Kälte, weil einem der europäische Winter unter die Kleider kriecht. Der sibirische Winter am Baikalsee dagegen ist sonnig und trocken, und ab und zu fusselt etwas Schnee herunter. Man verbringt ihn in sehr warmen Räumen, alles ist immer gut geheizt, und wenn man doch mal raus muss, dann empfindet man das eher als Erfrischung. Ich stellte nach ein paar Tagen fest, zu wenige T-Shirts eingepackt zu haben und einen viel zu dicken Pullover. Was ich nicht bereue, ist, in Sewerobaikalsk gleich nach Ankunft ein paar lammgefütterte Rentierfellstiefel gekauft zu haben, die hier „burjatische Stiefel“ heißen. Sie kosten ein sibirisches Monatsgehalt, aber man läuft darin wie in weichen, warmen Wölkchen.
Im Haus erklärte uns Sascha alles, er ist der Neffe der Datschenbesitzerin, und seine Mutter Galina heizte schon einmal ein. Der gemauerte, weißgekalkte Herd mit der eisernen Kochplatte ist das Herzstück des Hauses, und ein Schieber reguliert die Luftversorgung. Zieht man ihn auf, brennt das Holz schnell weg, schiebt man ihn zu, brennt es langsamer. Schließt man ihn ganz, bekommt man eine Kohlenmonoxidvergiftung. In den folgenden zwei Wochen hielten wir den Ofen tagsüber am Brennen und fütterten ihn mit den Scheiten, die im Vorgarten im Schnee lagen. Morgens heizten wir an, mittags kochten wir darauf, abends schlossen wir den Schieber gerade so weit, dass wir keine Kohlenmonoxidvergiftung bekamen. Dann glühte er die halbe Nacht vor sich hin und hielt uns warm.
Die Datsche hatte außerdem einen kleinen Wintergarten, der uns als Tiefkühltruhe diente, eine Küche und drei Zimmer. Die Toilette war hinten im Garten und bestand aus einem Holzhäuschen mit Loch im Boden. Immer, wenn wir sie besuchten, bellte der Hund des Nachbarn ohne Unterlass, bis wir wieder im Haus waren. Weil wir verweichlichte Mitteleuropäerinnen sind, kauften wir uns Zinkeimer für die Nacht. Es roch nicht, ab einer gewissen Kälte und Trockenheit riecht einfach überhaupt nichts mehr.
Kanalisation gibt es nicht und auch keine Wasserleitungen. Man packt seine Wasserkannen auf einen Schlitten und fährt zu einem der Dorfbrunnen. Dort füllt man sie mit gutem weichen Baikalwasser, dann zieht man den Schlitten wieder nach Hause. Wir wuschen uns an einer Emailleschüssel am Herd. Zweimal in der Woche packten wir Handtücher und Seife ein, liefen zu Galina ans andere Ende der Straße und besuchten ihre Banja. Ein kleiner Holzverschlag hinten im Garten, ein geschweißter Ofen, eine Zinkwanne darauf mit heißem Wasser, eine Zinkwanne mit kaltem Wasser, Plastikschüsseln zum Mischen. Eine Banja ist heiß wie eine Sauna, so heiß wie es irgendwie geht mit einem Holzofen, und die Einheimischen waschen hier auch gleich die Wäsche. Wir wuschen nur uns, danach traten wir in den dunklen Garten und erschraken sehr, als es dicht neben uns schnaubte. Es war so stockfinster, dass wir die Pferde nicht herankommen sahen.
Galina ist einundsechzig, sieht viel älter aus und wohnt mit ihrem Mann in einem Holzhaus, das nur aus einem einzigen großen Raum mit den in Russland üblichen mindestens vier verschiedenen Tapetenmustern besteht. Rechts wird gekocht, links wird gegessen, vorne liegt das Holz, hinten steht der Esstisch. Da hängt auch der Fernseher, auf dem ständig sowjetische Schnulzen laufen, in denen sich tüchtige werktätige Arbeiterinnen in Männer verlieben, die abenteuerliche Berufe haben. Es gibt bei Galina eine Katze und nach ein paar Tagen auch einen flauschigen Hundewelpen. Jeder hier hat einen Hund, und jeder Hund sieht aus wie irgendwas mit Husky.
Galina kochte uns den unvermeidlichen Omul, den endemischen Baikalfisch, den man hier in allen Aggregatszuständen bekommt: Als Suppe, als Fischfrikadelle, geräuchert, gefüllt, gegrillt, mit und ohne Haut. Dazu schenkte sie uns Schnaps aus einer Teekanne in kleine Gläser mit Stiel und Goldrand. Wir waren sauber, es war warm, wir waren satt und hatten diverse Schnäpse intus, die wir, immer gerne genommen, auf die deutsch-russische Druschba tranken, die Völkerfreundschaft, dann tranken wir, inspiriert von den werktätigen Sowjetfrauen im Fernsehen, auf die Liebe, auf den Baikal und was uns sonst noch einfiel. Glücklich und zufrieden wankten wir nach solchen Abenden mit unseren Handtüchern und Seifendosen die Straße zurück in unser Haus und fielen um. Russische Wellness ist nicht sehr glamourös, aber sie wirkt.
Die Kälte saugt einem die Energie aus dem Körper. Ein Spaziergang rund ums Dorf reicht, man möchte sich danach sofort wieder hinlegen. Manchmal unternahm Sascha Ausflüge mit uns. Er ist Angestellter bei der Bahn und im Sommer außerdem Touristenführer. Im Winter gibt es kaum Touristen hier, außer uns ist nur noch Vanessa aus Tschuwaschien für eine Woche da. Im Gegensatz zu uns, die wir ganz gerne unsere Ruhe hatten und dicke Bücher lasen, war Vanessa für jegliche Bespaßung zu haben. Aber ein paarmal kamen wir auch mit. Sascha packte uns drei in seinen Lada Niva und fuhr mit uns in seine Isbuschka, seine Jagdhütte am Seeufer, in der wir gegrillten Omul aßen. Der Lada roch nach künstlichem Erdbeeraroma wie alles hier, Taschentücher, Spülmittel, Seife, weil Erdbeeren nach Sommer riechen und weil der Sibirer sich nach dem Sommer sehnt.
Wir fuhren im Erdbeerauto zu den heißen Thermen am Kap Kopelnikowski mit ihrem spätsowjetischen Kurflair und schauten über die dampfenden türkisfarbenen Becken hinweg zum See. Dort waren wir die einzigen Gäste, betreut von einem Aufseher im unvermeidlichen Camouflageanzug und einer resoluten Bademeisterin in Kittelschürze. Wir fuhren Pferdeschlitten, was man sich nicht allzu romantisch vorstellen darf, denn wir saßen auf einem niedrigen Holzgestell mit etwas Stroh als Polsterung und einer Decke für die Beine. Das war das einzige Mal, als mir doch ein wenig frisch wurde.
In Baikalskoje ist die Einkaufssituation auf drei kleine Läden mit begrenztem Sortiment beschränkt – die Wodka-Auswahl ist aber üppig, und man kann mit EC-Karte bezahlen. Deshalb fuhren wir zweimal nach Sewerobaikalsk. Wir kauften frisches Gemüse in der Markthalle und Müsli im Supermarkt und setzten uns ins Café Geografija, in dem Simjon nicht nur ein stabiles Wlan bereithält, sondern auch Kaffee aus einer kleinen Craft-Rösterei in Nowosibirsk brüht. Hario-Filter, Aeropress, Chemex, bei Simjon gibt es das gesamte Arsenal zeitgenössischer Zubereitungsmethoden informierter Kaffee-Connaisseure. Sein ganzer Stolz ist aber die riesige Espressomaschine. Simjon kennt sich aus, er war in Italien, er weiß, was er tut. Entsprechend frequentiert ist das Café, dauernd kommt jemand rein, Schüler tragen Pappbecher heraus, Familien sitzen in Ecken, Kinder trinken Kakao.
Sonst gibt es nicht viel zu sehen. Die Stadt Sewerobaikalsk gibt es überhaupt nur, weil es die Baikal-Amur-Magistrale gibt. Der Bahnhof mit seinem gewagten Schrägdach ist das größte Gebäude weit und breit, daran schließt sich der Leningradskij-Prospekt an und führt geradewegs auf ein Denkmal für die BAM zu, die „Strecke der Freundschaft“, so die Inschrift. Ein BAM-Museum gibt es auch und einen sehr verschneiten Park. Aber die Kälte zehrte schon wieder und machte uns müde, und wir nahmen uns ein Taxi nach Baikalskoje. Mitten in der Taiga hielten wir an, denn ein Auto war in den Graben gerutscht und musste herausgezogen werden, was die ganze Straßenbreite beanspruchte. In der folgenden Stunde Fahrt bekamen wir einen sehr guten Überblick über die zeitgenössische russische Punkmusikproduktion.
Einmal zeigte uns Sascha sein Museum. Sascha ist 32 Jahre alt und sammelt schon seit Jahren alles Mögliche. Das alte Haus hat er von seinem Großvater geerbt, nun stand es voll mit Gegenständen aus der Sowjetzeit, im Garten ein Fischerboot und einfache Netze und Heidelbeerkämme und andere Gerätschaften, die keiner mehr kennt. An der Wand hing eine alte Karte, anscheinend befanden wir uns just da, wo wir nun standen, auf dem Grund und Boden der Kolchose „Pobeda“. „Pobeda“ heißt „Sieg“, und in der Sowjetunion hieß alles mögliche „Pobeda“, Straßen, Parks, Kolchosen, Herrenuhren, Fluggesellschaften, Schokolade. Überall Sieg, Sieg, Sieg. Die Parks und Straßen gibt es noch, die Schokolade auch, aber die Kolchose nicht mehr, jeder ackert im eigenen Gärtchen vor sich hin. Deshalb gibt es in den Dorfläden auch keine Kartoffeln und keine Rüben, baut ja eh jeder selbst an. Weil wir aber Kartoffeln brauchten, brachte uns Galina eine Tüte voll vorbei.
673 Kilometer lang ist der Baikal. Wenn man alle großen Seen Nordamerikas zusammenschütten würde, bekäme man den Baikalsee knapp voll. Wir standen am leicht ramponierten Holzsteg und schauten auf die riesige weiße Fläche, durch die sich Reifenspuren zogen. Ein paar Jugendliche saßen in einem alten Lada und fuhren johlend Doughnuts auf dem Eis. In der Ferne waren Angler unterwegs und bohrten Löcher in den See, dreißig, vierzig Zentimeter müssen sie überwinden, dann kommt das Wasser. Es war still, keine Vögel waren zu hören, nur ab und zu stritten sich ein paar fette Spatzen um irgendwas. Nachmittags kläfften die Dorfhunde, einer fing an, die anderen hängten sich rein. Manchmal röhrte ein altes sowjetisches Motorrad durch die Straßen, man legt hier einen Pelz auf den Sitz, dann geht es. Minus elf Grad waren es, eigentlich viel zu warm für Sibirien. Wir öffneten die Daunenjacken, in der Sonne ließ es sich aushalten. Für unsere Verhältnisse war das jedenfalls ein ganz passabler Winter.
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 21.02.2020 13:13 Uhr
