Das größte Geschenk der Geschichte
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Schön und leer: Rothenburgs Marktplatz mit dem Renaissance-Rathaus links und der Ratstrinkstube rechts. Bild: Verena Müller
Rothenburg ob der Tauber ist für viele Ausländer das Idealbild eines pittoresken Deutschland. Doch in Zeiten von Corona bleibt der Touristenansturm aus. Das ist für die Stadt ein Desaster – und eine Chance zugleich.
Gruseln gehört zum Geschäft. Das weiß der Nachtwächter von Rothenburg ob der Tauber und lässt sein Publikum erschaudern, wenn er ihm vom Schwarzen Tod erzählt, der im Mittelalter ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte, von den Rattenhorden mit ihren Pestflöhen, die als ständige Lebensgefahr im Dreck der Gassen hausten, von den marodierenden Söldnern, die im Dreißigjährigen Krieg die Pest nach Rothenburg einschleppten und den Niedergang der stolzen Reichsstadt besiegelten.
All diese Geschichten von Tod und Teufel gibt „The Nightwatchman of Rothenburg“ seit drei Jahrzehnten bei seinen abendlichen Rundgängen auf Deutsch und Englisch zum Besten, bekleidet mit Dreispitz und nachtschwarzem Mantel, bewaffnet mit Hellebarde, Laterne und Büffelhorn – und hätte sich bis vor wenigen Wochen nicht träumen lassen, dass seine Geschichten eines Tages Wirklichkeit und er selbst Opfer einer Seuche werden könnte. Jetzt zieht Hans Georg Baumgartner nicht mehr mit Hundertschaften im Schlepptau durch Rothenburg, sondern nur noch mit drei Dutzend Menschen. Jetzt dreht er fast so einsam seine Runden wie einst die echten Nachtwächter und findet die Leere schrecklich deprimierend, weil niemand mehr lacht im Rothenburg dieser Seuchentage.
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