Stadtjogging : Hamburg, laufend gesehen
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Wer bei Gösta Dreise eine Führung bucht, muss Sportschuhe, Kondition und den Willen zum Schwitzen mitbringen. Denn der Hamburger erklärt seine Heimat im Laufschritt. Stadtjoging nennt sich diese Art der Besichtigung.
Wenigstens die tiefen Pfützen geschmeidig überspringen, damit das ballonseidene Beinkleid nicht verschlammt. Behände unter den Regenschirmen der Passanten durchtauchen, damit die Spitzen einem nicht ins Auge ritzen. Aus den verständnislosen Blicken der Fußgänger spricht nur eine Botschaft: Wie kann man nur bei dem Wetter durch St. Pauli hetzen. Aber wir hetzen doch gar nicht: Wir machen "Touristjogging" - Hamburg mal laufend erleben. Nicht bewegungslos im Touristenbus hocken, nicht stumm inmitten einer Gruppe dem Stadtführer folgen - sondern die Laufschuhe schnüren und losrennen. Gösta Dreise ist an unserer Seite. Oder läuft vorneweg. Wenn es mal eng wird auf Bürgersteig, Straßenquerung oder vor den Hamburger Sehenswürdigkeiten. Wir folgen. Mit seinem quietschbunten Kopftuch kann man Gösta nicht aus den Augen verlieren.
Der Hamburger war im Jahr 2001 der Pionier im Touristjogging, das auch "Sightjogging" genannt wird, der Erste, der in Deutschland eine Stadtführung im Laufschritt anbot. Mittlerweile kann man in vielen deutschen Städten Wissenswertes mit Bewegung verschmelzen. Bei jedem Wetter. Gösta holt uns pünktlich im Hotel ab, in St. Pauli. Am maroden Millerntorstadion, der Heimstätte des FC St. Pauli, kommt Gösta gleich richtig in Schwung. Nicht dass er das Tempo forcierte. Nein, die Anekdoten prasseln nur so auf uns nieder. Als "Hardcore-Fan" des Kiez-Klubs bezeichnet der Neununddreißigjährige sich. Versuchen Sie erst gar nicht, während eines Heimspiels einen Termin bei Gösta zu bekommen. Das hat keinen Sinn. Was sind schon die paar Euro Honorar gegen den Stammplatz auf den Stehrängen samt der selbstgemachten riesigen Fahne - so viel Freiheit muss sein. Die schmucke Arena des Lokalrivalen Hamburger SV ist bei Gösta übrigens nie Teil der Laufstrecke: "Gegen die Ehre", aber auch "zu weit draußen", lautet die Erklärung. Gösta bietet auf seiner Homepage drei verschiedene Routen durch Hamburg an, aber er baut auch Wünsche seiner Gäste mit in die Tour ein. Sogar unterwegs lässt sich die Route auf Zuruf ändern.
Tempo ist kein Thema
Unverhofft biegt Gösta in eine graffitibesprayte Garageneinfahrt. Zum Vorschein kommt eine Gasse mit uralten kleinen Häuschen, eng an eng. "Die Erstbebauung von St. Pauli", erklärt er lächelnd, als ob ihm der Besuch hier selbst jedes Mal seelisches Wohlgefühl bereiten würde. "Die sind von sechzehnhundertdrei . . . äh nein." Mit den genauen Jahreszahlen hat es Gösta nicht so. Aber gerade das macht ihn sympathisch, dass er keine auswendig gelernten Informationen herunterrattert, an den bedeutsamen Stellen nicht einfach sein Sprüchlein anknipst. Es gibt wohl keine bessere Ausbildung als Touristenführer als ein langjähriger Job als Fahrradkurier: Hamburg ist sein Revier. Dazu schiebt Gösta noch Nachtdienste in einem Pflegeheim. Das Touristjogging ist sein Drittjob.