Gotthard-Tunnel : Am Gotthard beginnt die Zukunft
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Niemals ohne Helm: Die Gotthard-Tunnelbaumeister vor dem Bohrkopf der Tunnelbohrmaschine Bild: Herrenknecht AG
Die Schweiz baut durch den Gotthard den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Doch das Jahrhundertprojekt dient nicht nur der Verkehrspolitik - das Land erneuert mit ihm auch seine Mythen
Europa und die ganze Welt blicken derzeit ins Herz der Schweiz: Am Freitag erfolgt der Durchstich zum Bau des neuen Gotthard-Tunnels. Die europäischen Verkehrsminister, die in Luxemburg tagen, werden das Ereignis vor dem Fernseher mitverfolgen. Vor Ort, im Tunnel in zweieinhalb Kilometer Tiefe, können aus Sicherheitsgründen nur zweihundert Menschen an den Feierlichkeiten teilnehmen. Ein Geistlicher wird das Werk segnen, der deutsche Regisseur Volker Hesse hat die Inszenierung zur Einweihung erarbeitet. Und dazu auch den Sprengkünstler David Signer engagiert. Ein ungewöhnliches Spektakel aus Bildern und Tönen ist angekündigt: Es wird, so der Auftrag, "den Kampf des Menschen mit dem Gotthard-Gestein auf poetische Weise erfahrbar machen".

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Ganz so verlustreich wie der Bau des ersten Gotthard-Tunnels am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sind die Arbeiten diesmal nicht verlaufen. Louis Favre aus Chêne-Bourg hatte damals gegen alle Mitbewerber den Zuschlag bekommen, weil er als erfahrener Architekt und Unternehmer auf eigene Rechnung und eigenes Risiko arbeitete. Wassereinbrüche, Bergdruck und überforderte Bohrmaschinen führten zu vielen Menschenopfern. Das Werk war zehn Monate vor dem vereinbarten Termin fertig, Louis Favre aber ruiniert und tot: Er war bei einer Besichtigung zusammengebrochen. Als sein Unternehmen zusätzliche Kosten von fünfzehn Millionen Franken geltend machte, reagierte der Auftraggeber mit einer Gegenforderung von neun Millionen. Das Bundesgericht sprach der Firma schließlich achthunderttausend Franken zu. Freiwillig bezahlte die Gotthard-Bahn Louis Favres Tochter eine kleine Rente.
Mittel für das Jahrhundertprojekt
Diesmal wird im Namen des Staates gebohrt. Und es geht um Milliarden-Beträge im zweistelligen Bereich. Die Kostenüberschreitungen sind proportional. Das Volk stimmte dem Vorhaben in der wirtschaftlichen Hochkonjunktur während der nationalen Identitätskrise zu. Der sozialistische Finanzminister war dagegen. Die enormen Kosten sind auch ein wenig der hohe Preis für den politischen Sonderweg der Schweiz. Sie war mit ihrer Behinderung des Schwerverkehrs durch die engen Alpentäler mit Europa in Konflikt geraten. Dass Lastwagen auf die Schienen sollen, ist indes keine absurde Vorstellung. Die Schweiz ist mit diesem Postulat zum Pionier in Europa geworden und spielt diese Rolle jetzt mit dem Bau des neuen Alpentunnels.
Er wird zwischen Erstfelden und Bodio siebenundfünfzig Kilometer lang sein. Auch wenn ihn die ersten Züge in frühestens sieben Jahren benutzen können, werden die Anschlüsse in Deutschland und Italien, aber auch in der Schweiz nicht bereit sein. Das hat auch damit zu tun, dass die europäische Vereinigung den Verkehrsfluss durch den Kontinent verändert hat und das Jahrhundertprojekt in der Schweiz selbst die Mittel mobilisiert, die anderswo für die Modernisierung des Eisenbahnnetzes fehlen. Am Gotthard entsteht gewissermaßen das Gegenteil der Nadelöhr-Situation. Der Tunnel, mahnte mit diplomatischer Deutlichkeit der EU-Botschafter in der Schweiz, sei nur Teil einer gewaltigen Infrastruktur, zu der auch die Autostraßen und die Netze für Strom und Gas gehörten.
Réduit im Berg
Nach der Finanzkrise und dem internationalen Druck auf das Bankgeheimnis wäre das Jahrhundertprojekt wegen der triumphierenden und sparenden Schweizerischen Volkspartei wohl kaum mehr realisierbar. Doch die Weichen waren längst gestellt, als im schwarzen Herbst zu Beginn des Jahrtausends nach dem Anschlag auf das World Trade Center die Swissair abstürzte und im Gotthard-Tunnel nach einem Autounfall das Feuer ausbrach. Das spektakuläre Grounding der Fluggesellschaft, mit der ein nationaler Mythos zusammenbrach, war eine Folge des sturen und antieuropäischen Alleingangs im Himmel und auf der Erde. Der Brand im Gotthard-Tunnel wurde zum Fegefeuer einer gebeutelten Nation. Mit dem Tunnel setzt sie sich und ihrer eigenwilligen Verkehrspolitik im besten Eisenbahnland der Welt jetzt ein Denkmal.