
Die Wiedergeburt
Auferstanden aus Ruinen: Marseille hat sein Schmuddelimage abgeschüttelt. Vergessen sind Drogenkriege und Elend. Nicht nur Pariser zieht es jetzt verstärkt in die wilde und mysteriöse, schöne und chaotische Stadt am Mittelmeer.
26. Januar 2023
TEXT: Annabelle Hirsch
FOTOS: Geoffroy Mathieu
„Heute ist der Mistral besonders stark, Sie dürfen nur bis zur zweiten Schranke gehen, es ist sonst gefährlich, okay?“ Der junge Mann, der mir gerade sehr freundlich diese Anweisung gegeben hat, mir aber zugleich zu verstehen gibt, dass ich mich daran halten kann oder nicht, sitzt vor einer roten Schranke auf einem roten Plastikstuhl und grinst mich an, als sei es einer der besten Tage seines Lebens. Hinter ihm glitzert das Mittelmeer, ein Felsen ragt aus dem Wasser, in der Ferne tuckert ein Passagierschiff Richtung Korsika. Außer uns, mir und dem jungen Mann, ist niemand da. Es ist halb neun Uhr morgens in Marseille oder besser gesagt: am sogenannten „Ende der Marseiller Welt“, in „Les Goudes“, einem winzigen Fischerdorf am westlichen Rand der Stadt. Wenn man der einzigen „großen“ Straße der Bucht folgt, vorbei an zwei, drei Cafés, den Booten, die direkt neben Restauranttischen im Hafen liegen, landet man automatisch vor dieser roten Schranke: dem Eingang des „Parc National des Calanques“ und somit dem Ende der ältesten Stadt Frankreichs. Ab hier wird die Umgebung abstrakt. Ein paar Schritte weiter durch den Staub (nicht viel weiter als bis zur zweiten Schranke natürlich, bei Mistral, dem hiesigen Wind, besteht akute Brandgefahr), eine kleine Biegung nach links, und man taucht ein in eine Welt, die nur noch aus zwei Farben zu bestehen scheint: Weiß und Blau und ab und zu ein bisschen Grün. Weiß wie der schon jetzt grell leuchtende Kalkfels, in den das Salzwasser kleine Fjorde, die berühmten Calanques, gefressen hat. Blau wie das in dieser Stadt nie sehr weit entfernte Meer.
Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“
Jetzt abonnierenWer zum ersten Mal hier entlangläuft, besonders morgens, wenn es noch leer ist, aber schon sehr warm, wird einen ästhetischen Schock erleben. Oder zumindest so etwas Ähnliches – leichte Übertreibungen sind in Marseille immer willkommen, Kitsch sowieso. Die Umrisse verschwimmen, die Klarheit schmilzt dahin, man ist nur noch Sinne, Körper, au revoir, lieber Verstand. Man denkt an Matisse, seine weiß-blauen, schematischen Frauenkörper, die man nun ganz zu verstehen glaubt. An Albert Camus und seinen Fremden, Meursault, der immer wieder beteuerte, die Sonne habe ihn zum Mord gebracht. In Paris, in der Grisaille, klingt das absurd, wie eine Farce. Hier, fast gegenüber von Algier, ergibt die Erklärung plötzlich Sinn. Die Sonne ist hier die treibende Kraft. Im niederdrückenden wie im erhebenden Sinn. Und ein wichtiger Aspekt des neuen Marseille, dem plötzlich so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Seit zwei, drei, vielleicht auch vier Jahren fragen Lifestyle-Zeitschriften großer Zeitungen immer öfter aufgeregt: „Marseille, die neue Hauptstadt der Gastronomie?“ oder: „Marseille, die neue Hauptstadt der Mode?“, „Marseille, die neue Hauptstadt der Kunst?“ Seit die Stadt 2013 überraschend Kulturhauptstadt Europas wurde, hat sich ihr Image radikal gewandelt. Wo man einst sagte, sie sei provinziell, langweilig, dreckig, die Heimat von Halsabschneidern, vulgären Frauen und sich gegenseitig niederschießenden Drogenbanden, das Zuhause von Leuten ohne Kultur und mit komischem Akzent, sagt man neuerdings eher, sie sei so cool, so schön, so kosmopolitisch, einfach spannend.
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