Japans südlichste Insel : Alles wird gut, sagt der spuckende Gott
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Fromme Wünsche für hundert Yen: Wer will, dass sich das Glück erfüllt, muss ein Zettelchen am Schrein festbinden. Bild: Andrea Diener
Wer Japan bereist, dringt selten bis zur Südinsel Kyushu vor. Dabei ist die Natur dort besonders schön, die Dörfchen sind besonders dörflich, und Nagasaki ist sehr sehenswert.
Der Berggott hat gute Nachrichten für mich: „Your luck will improve“, übersetzt mir Yoshiai den Horoskopzettel, den ich für hundert Yen beim Aso-Schrein aus einem großen Horoskoppapierberg gezogen habe. Mehr Glück, das ist doch mal eine Ansage! „You will find new partner“, übersetzt Yoshiai weiter, was mich auch freut, aber ich soll bloß auf andere Menschen hören und mich mit ihnen verbünden. Unternehmungen, die ich auf eigene Faust anstrenge, würden unweigerlich scheitern. Sie lächelt und gibt mir den engbedruckten Zettel zurück, auf dem bestimmt noch viel mehr steht.
Ich kann froh sein, Yoshiai getroffen zu haben, die immerhin ein wenig Englisch spricht und sich sogleich bereit erklärt hat, mir mein für japanische Schreinverhältnisse äußerst günstiges Horoskop zu übersetzen. Und wenn es so dermaßen günstig ist, dann geht man zu den Pfählen, zwischen die mehrere Schnüre übereinandergespannt sind, und knotet den Papierstreifen dort fest, auf dass sich die Weissagung erfülle. Das mach ich natürlich, denn Glück kann ich immer gebrauchen.
Die kühle Brise entbindet von der Anzugpflicht
Es ist ein bisschen überraschend, dass der Gott des Vulkans Aso mir so gut gesinnt ist, denn noch vor einer halben Stunde spuckte er uns Gas und Schwefel entgegen, so dass wir alle mit Reizhusten zurück in den Bus fliehen mussten. An guten Tagen, also solchen, an denen der Aso zahm ist, kann man in den Vulkankessel schauen und die Erde brodeln sehen. Diese ganze geologische Verfasstheit des Landes Japan ist ja ziemlich unberechenbar, dauernd wackelt irgendwo etwas, alles ist instabil, und wenn die Erde mal stillhält, bewegt sich die Luft unbotmäßig schnell oder das Wasser außen herum bleibt nicht da, wo es sein soll, und wendet Gewalt an. Ganz Japan ist ein einziges Beharren gegen die Kraft der Elemente.
Da ist es kein Wunder, dass alle menschliche Ansiedlung eher provisorisch anmutet, mit Häusern, denen jeder architektonische Gestaltungswille fremd bleibt, und einem Stromleitungssystem, das an seinen Masten hängt wie ein Knäuel Spaghetti auf der Gabel, damit man es im Falle des Falles schnell wieder richten kann. Zurzeit ist der Strom ohnehin ein wichtiges Thema, denn alle Kernkraftwerke des Landes sind abgeschaltet. Die Regierung hat die Aktion „Cool Breeze“ ausgerufen, also kühle Brise: Die Klimaanlagen in den Büros sollen nicht mehr auf 20 Grad, sondern nur noch auf 22 Grad eingestellt werden, außerdem sind die japanischen Arbeitnehmer von Jackett- und Krawattenpflicht entbunden. Die morgendliche Völkerwanderung in den größeren Städten kommt neuerdings ohne Businessanzüge aus, und das Weiß der Hemden leuchtet hell in der Morgensonne.
Ein Zeichentrickjapan mit Gartenbonsais und Reisbäuerlein
Zum Beispiel in Fukuoka. Das heißt „Tal des Glücks“, schon wieder Glück, und, wirtschaftlich gesehen, steht Fukuoka auch unter einem guten Stern. Die Stadt, die anderthalb Millionen Einwohner zählt, ist die größte auf Japans Südinsel, Kyushu: wirtschaftlich bedeutend, landschaftlich unspektakulär, architektonisch so unansehnlich wie die meisten japanischen Städte, aber auf Kyushu ist das Grün nie weit weg. Für die Bewohner der Hauptinsel Honshu ist die Südinsel ohnehin ferne Provinz, hier wohnen ihrer Vorstellung nach Malocher, Fischer und Reisbäuerlein. Und so ganz von der Hand zu weisen ist dieser Verdacht auch nicht, wenn man durch die Dörfer fährt, diese Ansiedlungen aus Häuschen mit pagodenförmig gewölbten Dächern und wolkenförmig beschnittenen Gartenbonsais im schmalen Vorgarten. Hügel, mit Bambuswäldern bewachsen, Reisfelder, Kiefernwäldchen. Ein richtiges Bilderbuch-Japan. Oder, wenn man so sozialisiert ist wie ich, ein Zeichentrickfilm-Japan.
Einst war Kyushu das Lieblings-Naherholungsziel der Nation, inzwischen leistet man sich lieber eine Auslandsreise. Westliche Touristen verirren sich erst recht nicht in den Süden. Zwar gibt es auch hier interessante Schreine, Gärten und vor allem wunderbare Natur wie die „Neunundneunzig-Insel-Landschaft“, die man mit dem Ausflugsboot erkunden kann. Aber der gemeine Japan-Reisende steht sich nach wie vor lieber vor Kyotos Kulturdenkmälern die Beine in den Bauch.
Der wütende Geist des einstigen Hofgelehrten
Selbst schuld, denke ich mir. Am Aso-Schrein sind wir die einzigen westlichen Besucher. Selbst der Ansturm am bedeutenden Dazaifu-Schrein in der Nähe von Fukuoka kommt zum Großteil aus sämtlichen Ecken Asiens. Man hört Chinesisch und Koreanisch und natürlich Japanisch. In Dazaifu lebte der Gelehrte und Dichter Sugawara no Michizane, der durch Intrigen vom Hof in Kyoto verbannt wurde und fortan in der fernen Provinz als kleiner Beamter leben musste. Nach seinem Tod im Jahr 903 wurde die damalige Hauptstadt durch Unwetter schwer beschädigt, es gab Dürren und Seuchen, viele Höflinge starben und alle Söhne des Kaisers. Sofort ließ die Regierung einen Schrein bauen, um den wütenden Geist des einstigen Hofgelehrten zu besänftigen, dessen Rachegelüste man für die Stürme verantwortlich machte. Michizane bekam postum alle Ämter wieder zugesprochen, und dass er in die ferne Provinz Kyushu verbannt war, tilgte man aus den Chroniken. Heute besuchen viele Schulklassen den Schrein in Dazaifu, und Schüler bitten auf kleinen Holztäfelchen um gute Prüfungsergebnisse.
Doch nicht immer war Kyushu nur das japanische Ende der Welt, in das man in Ungnade gefallene Beamte entsorgte. Ziemlich lange befanden sich hier auch die Handelskontore der europäischen Mächte Portugal und Holland - zuerst im beschaulichen Hirado ganz oben im Nordwesten Kyushus, später in Nagasaki. Doch das ging nicht lange gut. Als der Shogun berechtigterweise befürchtete, eifrig missionierende Jesuiten und aufklärerische Gedanken könnten zu viel Unruhe in sein Reich bringen, warf er sämtliche europäische Händler und Missionare aus dem Land, verbot das Christentum und riegelte Japan für fast dreihundert Jahre völlig ab. Der einzige Handelsposten war die künstliche Insel Dejima vor Nagasaki, auf der sich die niederländische Ostindien-Kompanie niederließ, denn die Niederländer hatten kein Interesse an der Missionierung. Sie importierten lieber Seide und Baumwolle und exportierten Lackwaren, Kampfer, Metalle und, von der nahen Hafenstadt Imari aus, auch das kostbare Porzellan aus dem Dorf Arita, das sich der Produktion für den europäischen Geschmack verschrieben hatte. Noch immer ist Arita eine Porzellanstadt, und in einem verkleinerten, etwas deplaziert anmutenden Nachbau des Dresdner Zwingers kann man die Produktion der vergangenen Jahrhunderte besichtigen.
Paravents und Patchworkdecken auf der Handelsinsel
In Nagasaki, an dessen Hafen die Mitsubishi-Werft Kreuzfahrtschiffe in die halbe Welt schickt, wurde die Handelsinsel Dejima liebevoll rekonstruiert. In den Holzhäuschen herrscht eine wilde Mischung aus japanischem und holländischem Stil, strenge Sprossenfenster und Blümchentapeten, japanische Paravents und Patchworkdecken, japanisch gestutzte Bäumchen und Pendeluhren. Die Anwesenheit der Niederländer im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert sorgte auch dafür, dass aus dem abgelegenen Nagasaki ein Zentrum des Fortschritts wurde. Niederländische Ärzte und Wissenschaftler hielten Vorträge und gaben ihr Wissen an japanische Schüler weiter. Die Dolmetscherfamilien hüteten wertvolle niederländische Bücher und gehörten zu den einflussreichsten Häusern weit und breit. Und nicht zuletzt hatten viele Niederländer japanische Geliebte. Durch ein kleines Nadelöhr, über die Landbrücke zur Dejima, fand trotz Abriegelung und strengster Auflagen in der hintersten Ecke des Landes ein reger Kulturaustausch statt. Und nach der Meiji-Restauration, der erzwungenen Öffnung des Landes, schlich sich die Industrialisierung hier zuallererst ein.
Nagasaki ist auch die Stadt, in der die kurze Zeit des japanischen Christentums noch am stärksten sichtbar ist. Nicht nur die allgegenwärtigen Bisquitkuchen namens „Castella“, an jeder Ecke erhältlich in Vanille- und Grünteegeschmack, erinnern an das portugiesische Erbe. Zahlreiche Kirchen sind noch erhalten, auch wenn der christliche Glaube lange nur im Verborgenen ausgeübt werden durfte. Die größte zentrale Kirche allerdings, die Urakami-Kathedrale, wurde nur zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung völlig zerstört. Sie stand zu nahe am sogenannten Hypozentrum, dem Einschlagspunkt der Atombombe „Fat Man“, die eigentlich das Mitsubishi-Werk treffen sollte, das zu diesem Zeitpunkt der größte Waffenhersteller Japans war. Neben einer Stele, die das Hypozentrum markiert, ragen neugotische Säulenfragmente auf. Schulklassen haben Origami-Kormorane gefaltet, auf Schnüre gezogen und dort abgelegt.
Japan hat Angst vor der Panik
Größere Teile der Kirchenfassade stehen gleich nebenan im Atombombenmuseum. Dort kann man sehen, wie extreme Hitze Fassadenskulpturen und Rosenkränze schmelzen lässt. Man sieht deformierte Glasflaschen, verkohlte Baumstümpfe und eine ziemlich mitgenommene Wanduhr, deren Zeiger auf zwei Minuten nach elf Uhr stehengeblieben sind - dem Zeitpunkt der Detonation. Diese Alltagsgegenstände, die die Spuren einer der größten, menschengemachten Katastrophen tragen, sind in ihrer Einfachheit anrührend.
Mindestens so interessant wie das, was erklärt und ausgestellt wird, ist aber das, was das Museum nicht erwähnt. So geriet Japan anscheinend ohne jegliches Verschulden in einen hässlichen Weltkrieg hinein, der von einem üblen deutschen Diktator ausgelöst wurde, der vermutlich auch mit irgendwem verbündet war, aber wohl eher nicht mit Japan, das einfach nur unschuldig vor sich hin lebte. Das hatten wir irgendwie anders in Erinnerung.
Die großen Verlierer waren am Ende die Einwohner in den verseuchten Städten: Sie verloren nicht nur Gesundheit, Familie, Besitz und Heimat, sie verloren auch ihr Ansehen in der starren japanischen Gesellschaft, die so sehr auf Anpassung und Unterordnung ausgerichtet ist, dass sie für Atombombenopfer keinen Platz finden konnte. Wer erwähnte, aus Hiroshima oder Nagasaki zu stammen, dem wurde eine Arbeitsstelle verweigert und kam nicht als Ehemann oder Schwiegersohn in Frage. Die ältere Generation denkt noch immer so: Besser über das Schlechte hinwegsehen, Schweigen ist besser. Oder, wie es unser auch schon etwas betagter Guide formuliert: „Wir in Japan haben Angst vor der Panik.“ Deshalb möchte er mit uns auch lieber nicht über Fukushima reden.
Die Jüngeren sind aufgeschlossener
Die jüngere Generation ist da zum Glück aufgeschlossener. Wir treffen sie in Gestalt von Yuki, die uns erst einmal in eine Bar verschleppt. Die Bar ist in einem uralten Häuschen untergebracht, von einem Gärtchen gesäumt und für japanische Verhältnisse äußerst plüschig. Der Barmann stellt uns Knabbereien hin, wie in Japan üblich, und widmet sich dann wieder seiner umfangreichen Musiksammlung. Yuki arbeitet beim lokalen Touristenbüro, spricht hervorragend Englisch und hat mehrere Monate in New York gelebt. Neben ihrer Arbeit besucht sie regelmäßig Grundschulen, unterrichtet und organisiert Projekte zum Thema Frieden. Ja, die ältere Generation habe so gedacht, sagt sie, aber das ändert sich langsam.
Und dann unterhalten wir uns über die Zeichentrickfilme von Hayao Miyazaki, den wir beide sehr verehren. Der Barmann schnappt den Namen auf, legt den Soundtrack zu „Nausicaä“ ein, und Yuki erzählt vom neuesten Werk des Regisseurs, das in Deutschland noch nicht angelaufen ist, mich aber brennend interessiert. „The Wind Rises“ heißt der Film, und er handelt von einem Mann und seinem Traum vom Fliegen. Das klingt harmlos, doch der Film lehnt sich an die Biografie von Jiro Horikoshi an, der das erfolgreichste japanische Kriegsflugzeug entwickelte, die „Zero“, hergestellt im Mitsubishi-Werk von Nagoya. Er habe nur etwas Schönes herstellen wollen, soll Horikoshi nach dem Krieg gesagt haben, nachdem sein Flugzeug als effektivste Maschine der Luftwaffe für unzählige Tote verantwortlich gewesen war.
Es habe einigen Rummel um den Film gegeben, erzählt Yuki, denn ein so politisches Thema sei man von Miyazaki nicht gewohnt. Der Regisseur meldete sich auch öffentlich zu Wort und wandte sich in einem Essay gegen den Plan des Premierministers, die japanische Verfassung zu ändern und eine Armee aufzubauen, die mehr Befugnisse hat als die bestehende passive Landesverteidigung. Bisher hat Japan in militärischen Angelegenheiten einen engen Pakt mit den Vereinigten Staaten: Amerika verteidigt, Japan zahlt dafür. Und nun ist es ausgerechnet ein Zeichentrickfilm für Erwachsene, der die Debatte über die Landesverteidigung befeuert, und ein ausgemacht erfolgreicher obendrein.
Mit Kind und Kegel in die Kurstadt
Man kann versuchen zu schweigen. Man kann seine Herkunft vertuschen, man kann Geschichtschroniken ändern, man kann Kernschmelzen unerwähnt lassen, aber nicht ewig. Das kann nicht einmal die japanische Gesellschaft, die dem Chaos immer wieder ein strenges Korsett überzustülpen versucht. Die in ihrer Sprache zwar ein Wort für „nein“ hat, es aber aus Höflichkeit nie benutzt. Eine Gesellschaft, die so besessen ist von allem, was „kawaii“, was niedlich ist, dass man ständig über grinsende Cartoonfiguren stolpert, die einen großäugig von Hinweisschildern, Socken, Hochhäusern anstarren. Die ihre Zähne mit Hello-Kitty-Zahnpasta putzt. Und die vor lauter Streben nach Schönheit bis in den letzten Teebecher manchmal die Menschen vergisst, die mit dieser Schönheit leben.
Zum Glück haben sich diese Menschen Strategien zurechtgelegt, sich ab und an zu entspannen. Seit 120 Jahren gibt es das, etwa im Kurstädtchen Kurokawa Onsen. Denn die bebende, brodelnde Erde sorgt nicht nur für Erschütterungen im Land, sie sprudelt auch heißes Wasser hervor. Und so packt man am Wochenende Kind und Kegel ein und fährt in eine Kurstadt wie Kurokawa, um sich in einem traditionellen Gasthaus, einem Ryokan, einzumieten. Im Zimmer steht nur ein niedriger Tisch, und zum Schlafen wird nachts der Futon auf den Tatamimatten ausgerollt. Beim Essen müssen wir westlichen Besucher die Füße unter dem Tisch verstauen, weil wir das Hocken nicht gewohnt sind.
Waldgeister bevölkern das Dorf an der Schlucht
Das Örtchen ist die beschaulichste Ansiedlung, die uns in den vergangenen Tagen begegnet ist. Im letzten Licht des Tages wandern die Besucher in baumwollenen Yukatas, leichten Badekimonos, durch die Straßen und von Quelle zu Quelle. Das beinahe siedendheiße Wasser wird auf etwa vierzig Grad heruntergekühlt, und jede Quelle hat eine etwas andere Mineralienzusammensetzung und ist deswegen für etwas anderes gut: Leber, Herz, Haut, Schönheit.
Vor dem Bad, dem Onsen, duschen wir uns gründlich ab, dann geht es ins warme Wasser. Wir liegen im Becken und schauen durch die mit dunklem Holz gerahmten Fenster über die bewaldete Schlucht hinweg auf die Hügel, die sich über Kurokawa aufstapeln. Mir kommt der Ort bekannt vor, und da fällt es mir ein: Im Film „Prinzessin Mononoke“, mit dem Hayao Miyazaki einem größeren westlichen Publikum bekannt wurde, gibt es im Wald ein ganz ähnliches Dorf an einer Schlucht. Und es wimmelt dort vor Waldgeistern und Waldgöttern. Ich starre ins Dunkel, aber es ist nichts zu sehen, kein seltsames Wesen und kein Irrlicht.
Vielleicht hat der Berggott vom Aso-Schrein mit seinem günstigen Horoskop recht. Zumindest in diesem Moment ist es so friedlich, dass man wirklich glauben könnte, alles werde gut, obwohl man denkt, nichts verstanden zu haben. So ist das mit Japan: Je mehr man fragt und je mehr man darüber weiß, desto weniger versteht man. Hinter jeder Antwort warten drei neue Fragen, aber heute stelle ich keine einzige mehr. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass irgendwo dort draußen ein kleiner Waldgeist vor sich hinleuchtet und ein großer Berggott weiß, was mir bevorsteht.