https://www.faz.net/aktuell/reise/hanoi-architektur-der-vietnamesischen-hauptstadt-18522031.html
Monument mit sowjetischen Einflüssen: Ho-Chi-Minh-Mausoleum
Monument mit sowjetischen Einflüssen: Ho-Chi-Minh-Mausoleum Foto: Stefan Volk/Laif

Die Stadt wirft ihre Schatten

Text und Fotos von KEVIN HANSCHKE
Monument mit sowjetischen Einflüssen: Ho-Chi-Minh-Mausoleum Foto: Stefan Volk/Laif

11. Dezember 2022 · Hanoi erzählt mit seiner Architektur viel über die Vergangenheit und Zukunft des besonderen Sozialismus, der in Vietnam herrscht.

Die Bewohner Hanois lieben Zweiräder. Auf acht Millionen Menschen kommen fünf Millionen Motorroller und vier Millionen Fahrräder. Und nirgendwo sonst ist das Heer an motorisierten Menschen auf zwei Rädern größer als am Leninplatz. Um die drei Meter hohe Statue des russischen Revolutionsführers aus gelblichem Kupfer brausen ohne Unterlass die Zweiräder. Und wir stehen mitten in diesem Verkehrsstrudel, der sich an diesem Morgen über die Alleen und Gassen der Stadt ergießt. Auf der einen Seite des Platzes steht ein riesiges Coca-Cola-Banner, auf der anderen ein Plakat der Kommunistischen Partei zur Planerfüllung. Darauf scheint eine rote Sonne über den comichaften Bildern von Werktätigen – in ihrer Mitte ist ein Porträt von Ho Chi Minh. „Wir haben hier Sozialismus und lieben den Kapitalismus. Das ist doch Dialektik. In der Realität bedeutet es, dass wir in der Schlange stehen, aber nach dem Warten trotzdem nichts umsonst bekommen“, sagt unser Reiseleiter Pháo Quang und lacht dabei laut. Dass wir solche Sprüche noch öfters hören werden, ist uns am Anfang unseres Spaziergangs durch die Stadt noch nicht klar. Quang ist Mitte vierzig und auf dem Land aufgewachsen. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt er in der vietnamesischen Hauptstadt und kennt jeden Winkel, denn er arbeitet seit seinem Studium im Tourismus. Eine klassische Aufstiegsbiographie, wie er selbst sagt. „Es ist diese Geschichte, die das moderne Vietnam erzählen will. Und die sich auch im Stadtbild von Hanoi widerspiegelt“, sagt er. Doch vieles, was er sagt, meint er nur halb ernst – besonders seine vielen Anekdoten über den speziellen Sozialismus in Vietnam. Für die Erklärungen zur Architektur ist hingegen Đoàn Viet Nam zuständig, der in den Siebzigerjahren geboren wurde, mit achtzehn nach Hanoi kam, dort studierte und blieb.

Altstadt voller Zweiräder: 5 Millionen Scooter gibt es in Hanoi

Der Leninplatz ist das Entree zu einem Stadtteil, der anders ist als der Rest der Stadt. Wir spazieren ins Regierungsviertel, wo die Straßen breiter sind, der Verkehr abnimmt und sich das quirlige Hanoi in eine verkehrsberuhigte Zone mit gepflegten Rasenflächen und einem Platz im Zentrum, der so groß ist wie fünf Fußballfelder, verwandelt. Die Weite hier ist einschüchternd, ein wenig beängstigend. Wir teilen uns die breiten Bürgersteige mit grün uniformierten Wachsoldaten.

Das Regierungsviertel ist historisch aufgeladen. Die Architektur spiegelt die vietnamesische Geschichte – von der Kolonialherrschaft über den Kampf um Unabhängigkeit, vom Krieg zum anschließenden Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft bis hin zur Öffnung Richtung Kapitalismus und dem ökonomischen Boom dieses Tigerstaats, dessen Bevölkerung eine der jüngsten der Welt ist und dessen IT-Sektor nun einer der Motoren des Wohlstands ist.

Direkt hinter Lenin ragen die Glastürme in die Luft. Das Ho-Chi-Minh-Mausoleum von 1975 hingegen, dessen Betonplatten in der sengenden Mittagshitze die Sonnenstrahlen aufzusaugen scheinen, ist eines der größten Gebäude der Stadt. „Jedes Schulkind in Vietnam ist mindestens einmal im Leben hier. Dieser Ort ist das Zentrum der vietnamesischen Zivilisation“, sagt Nam. Das Denkmal ist architektonisch angelehnt an das Lenin-Mausoleum in Moskau – nur das Dach ist schräger und soll an vietnamesische Baustile erinnern. Nach seinem Tod wurde der vietnamesische Präsident zunächst nach Russland gebracht, um ihn von sowjetischen Experten einbalsamieren zu lassen – dann kam er zurück nach Hanoi und wurde frenetisch gefeiert. „Ein Jubeltag war das“, sagt Nam.

In der Kolonialzeit war es der Mittelpunkt der Metropole: das Hauptpostamt der Stadt
In der Kolonialzeit war es der Mittelpunkt der Metropole: das Hauptpostamt der Stadt

Gegenüber steht das Gebäude der vietnamesischen Nationalversammlung, das einem mit seiner gerasterten Fassade irgendwie bekannt vorkommt – es könnte auch ein Ministerialbau in Berlin sein. Nam löst dieses Rätsel für uns. Er erzählt, dass das Architekturbüro gmp, des vor Kurzem verstorbenen Architekten Meinhard von Gerkan aus Deutschland, das Gebäude geplant hat. 2014 wurde es fertiggestellt. Die zu klein gewordene alte Nationalversammlung wurde abgerissen. „In den Höfen befinden sich Bäume aus allen Regionen des Landes. Die Kubatur hat die Form einer traditionellen Trommel. Der Sitzungssaal ist der Körper des Instruments.“ Das Parlament ist gerade von dunklem Rot angestrahlt – wegen der halbjährlichen Nationalversammlung.

Verkehrsberuhigte Zone: Gebäude der Nationalversammlung von gmp
Verkehrsberuhigte Zone: Gebäude der Nationalversammlung von gmp

Viele der Gebäude, an denen wir vorbeiflanieren, sind jedoch in einem Farbton gestrichen, der an die Kolonialherrschaft erinnert. Es ist das charakteristische Ockergelb, das die Franzosen in Vietnam an die Fassaden gebracht haben. Das Außenministerium, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, das Opernhaus, das an das Pariser Palais Garnier erinnert, und die Residenzen der wichtigsten vietnamesischen Politiker sind in dieser Farbe gehalten. „Die Franzosen sahen den Farbton an den Häusern in vietnamesischen Küstenorten. Sie haben ihn übernommen.“ Heraus sticht nur das Hotel Metropole, mit seiner weißen Fassade und der grünen Restaurantterrasse, über der Ventilatoren wie Tornados Luft blasen. Es wurde 1901 eröffnet und ist bis heute das erste Haus der Stadt. „Sehr bequem“, sagt Nam und berichtet stolz von der Geschichte des Hotels. „Es ist einer der zentralen Orte der Revolution.“ Wo früher die Kolonialherren der französischen Konzession ein und aus gingen, sind heute zum Parteitag die kommunistischen Delegierten einquartiert. Überall wehen Flaggen – der gelbe Stern, Hammer und Sichel und das Konterfei von Ho Chi Minh. „Onkel Ho ist allgegenwärtig“, sagt Quang lächelnd.

Ockergelb war der Farbton mit dem die Franzosen Regierungsgebäude versahen, wie das Außenministerium von Vietnam
Ockergelb war der Farbton mit dem die Franzosen Regierungsgebäude versahen, wie das Außenministerium von Vietnam

Währenddessen sitzen die wohlhabenden Vietnamesen auf der Terrasse vor dem Hotel, trinken Crémant und knabbern an Macarons – am Straßenrand haben sie ihre Bentleys, Maybachs und Ferraris geparkt. Davor hocken drei Bauarbeiter, die Pfeife rauchen. Vietnams Kommunismus wirkt hier besonders laissez faire. Das zeigt sich auch auf den Straßen der Altstadt. „Es ist anarchisch hier“, sagt Nam. Eigentlich ist es verboten Stühle auf den Bordstein zu stellen. Außengastronomie ist nicht erlaubt. Doch niemand hält sich in dieser Stadt daran, wo sich eigentlich das ganze Leben auf der Straße abspielt. „Wenn die Polizei kommt, werden die eingesammelt, oder wenn sie beschlagnahmt werden, kauft man neue. Die kosten 50 Cent“, sagt Quang lachend.

Filigrane Säulen: der Palast der vietnamesisch-sowjetischen Freundschaft von 1985
Filigrane Säulen: der Palast der vietnamesisch-sowjetischen Freundschaft von 1985 Foto: Kevin Hanschke

Langsam bewegen wir uns auf den gelben Präsidialpalast zu, in dem sich 2019 der damalige US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un zum zweiten Mal trafen. Und neben dem ein traditionelles Pfahlhaus steht, mit dem Namen „Haus Nummer 54“. In dem lebte Ho Chi Minh. Nur fünfhundert Meter weiter findet eine Hochzeit statt – ein Lotus- und Lilienmeer auf dem Tisch –, die Männer tragen rosafarbene, mintgrüne und beige Anzüge, die Braut ein weißes Kleid mit Schleppe. Wir betreten den Palast der vietnamesisch-sowjetischen Freundschaft. Während wir die breiten Treppen hochsteigen und die filigranen und dennoch brutalistischen Säulen betrachten, erzählt uns Nam die Geschichte des Gebäudes. Der Baubeginn war 1976, und 1985 wurde der Palast fertiggestellt, in dem Jahr, als Gorbatschow in der Sowjetunion Generalsekretär wurde. Heute wird er für Kulturveranstaltungen genutzt und für Events vermietet. Wir laufen weiter über die staubige Straße zum Bahnhof. Hier wird die Lightrail gebaut, die die Vororte mit der Innenstadt verbinden soll. Momentan gebe es Pläne, die Altstadt verkehrsberuhigt zu gestalten und Motorroller zu verbannen. „Ein Höllenszenario“, sagt Nam.

Jede Zunft hat eine eigene Gasse in der Altstadt, wie zum Beispiel die Hersteller von Weihnachtsschmuck
Jede Zunft hat eine eigene Gasse in der Altstadt, wie zum Beispiel die Hersteller von Weihnachtsschmuck

Doch auch gegenwärtig gibt es Probleme. Nam erzählt, dass Investoren in der Altstadt im großen Stil Grundstücke einkaufen, Villen und Vorbauten abreißen und durch Hotels oder Bürogebäude, die die engen Straßen verschatten, ersetzen. Angefangen hat das Anfang der Neunzigerjahre mit den Hanoi Towers, einem Apartmentkomplex, der von Weitem klotzig aussieht. Die Fenster sind verspiegelt, die Fassade orange und weiß. Für die Türme musste eine der ältesten Gegenden der Stadt weichen. Jede Auslandsinvestition sei nach der ökonomischen Öffnung begrüßt worden. Đoi moi, vietnamesisch „Erneuerung“, werden die 1986 initiierten marktwirtschaftlichen Reformen genannt, erzählt uns Nam. Der wirtschaftlichen Liberalisierung folgte zunächst keine politische. Überwachung und Menschenrechtsverletzungen sind auch im modernen Vietnam allgegenwärtig. Der Wandel prägte hingegen die Architektur.

Hier trafen sich 2019 Kim Jong-un und Donald Trump: Präsidentenpalast von Vietnam
Hier trafen sich 2019 Kim Jong-un und Donald Trump: Präsidentenpalast von Vietnam

Für 500 000 Menschen hatten die Franzosen die Stadt angelegt. Doch mittlerweile haben Hanoi und sein Umland zwanzigmal so viele Einwohner: zehn Millionen. Dennoch sind in Hanoi, anders als in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem Wirtschaftszentrum und der größten Metropole des Landes, weite Teile der historischen Stadtstruktur, die seit Jahrtausenden existiert, erhalten geblieben. In der Altstadt liegen die Zunftgassen – jedes Gewerbe, die Buchbinder, die Stoffhändler und die Süßigkeitenverkäufer, hat seine eigene Straße. Meistens bestehen diese aus den Kolonialvillen der Franzosen, die mit Zwischenbauten aus Beton oder Holz erweitert wurden. Während das Eingangsportal für die Ladengeschäfte genutzt wird, befinden sich darüber, im Vorderhaus, die Wohnräume der wohlhabenderen Familien. In den Hinterhöfen sind die weniger vermögenden Familien zu Hause. „In der Kolonialzeit hat eine Familie so ein Haus bewohnt. Jetzt sind es bis zu zehn.“ Nam führt uns in eine dieser Wohngassen. Wir zählen zwölf Stromzähler und Briefkästen. Der Flur verwandelt sich von Hof zu Hof in einen dunklen Schacht. Die Luftist zum Schneiden. „Jeder dieser Höfe ist wie ein Dorf organisiert. Es gibt einen kleinen Krämerladen, eine Wäscherei und ein Restaurant.“ Hanoi ist eine Stadt der Zehntausenden Dörfer. Vorbei am Literaturtempel geht es wieder zum Leninplatz.

So groß wie mehrere Fußballfelder: Vorplatz des Ho-Chi-Minh-Mausoleums mit dem Weißen Haus (rechts), dem Sitz der Regierung
So groß wie mehrere Fußballfelder: Vorplatz des Ho-Chi-Minh-Mausoleums mit dem Weißen Haus (rechts), dem Sitz der Regierung

„Das Regierungsviertel ist das Hirn von Hanoi, und Hanoi ist das Herz von Vietnam. Das Hirn steckt bei uns im Herzen, und wenn es nicht gut arbeitet, gibt es einen Herzinfarkt“, sagt Nam und grinst wieder. Er sei stolz darauf, was die Stadt erreicht habe und dass sich das in der Architektur niederschlägt. Unterdessen fahren BMWs und Maseratis an uns vorbei. „Das wird so weitergehen“, sagt Nam. Auch Quang ermuntert das zu einer Anekdote. „Die junge Generation orientiert sich am Prinzip 1, 2, 3, 4.“ Wir können uns nicht vorstellen, was er meint. Dabei ist es einfach – ein Partner, zwei Kinder, ein Haus mit drei Zimmern und ein Vehikel mit vier Reifen. Das ist es wohl – das neue Vietnam. Wieder rasen im Sekundentakt Dutzende Motorroller an uns vorbei. „Bald werden es Autos sein – Elektroautos“, sagt Quang. Wieder lacht er und wird kurz ernst. „Wir arbeiten hart dafür, dass unsere Kinder es besser haben. Das ist unser Antrieb.“

DER WEG NACH HANOI

Anreise Mit dem Flugzeug z. B. mit Vietnam Airlines oder der Lufthansa von Frankfurt, ab 805 Euro.

Unterkunft im Silk Path Hotel, DZ ab 75 Euro, zentral gelegenes Hotel in einem Kolonialhaus Sofitel Hotel Metropole, DZ ab 250 Euro, in der Kolonialzeit Treffpunkt der Oberschicht, später Gästehaus der Kommunisten, heute Fünf-Sterne-Haus

Reiseveranstalter Enchanting Travels bietet Architekturreisen an, zweiwöchiges, maßgeschneidertes Paket ab 1900 Euro, enchantingtravels.com

WANDERN IM SULTANAT OMAN: Hitzefrei in der Höhe
INDISCHER OZEAN : Vor 50 Jahren hat der Tourismus die Malediven entdeckt

Quelle: F.A.S.

Veröffentlicht: 15.12.2022 11:50 Uhr